Emma K.

von Johannes Lengert, November 2015

Als Alice Emma Marie Kraft verhaftet wurde, hatte sie gerade ihren fünfunddreißigsten Geburtstag gefeiert. Die Verhaftung kam für Außenstehende und selbst für Freunde überraschend. Sie war als Tochter eines Schokoladenfabrikanten in Hamburg an der Binnenalster aufgewachsen. Über ihre Kindheit und Jugend lässt sich nichts Weiteres sagen. Allein seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr sind Proteste gegenüber der elterlichen Autorität bekannt, die darin gipfelten, dass sie den schokoladenbraunen Mercedes ihres Vaters, eine Sonderanfertigung, die dieser mit Stolz fuhr, mit roter Farbe besprühte. Alice war das einzige Kind. Die Mutter war seit Alices Geburt häufig krank und war nach zwei Schlaganfällen zwar nicht pflegebedürftig, so doch immer auf Hilfe angewiesen. Nach dem Abitur verzichtete Alice auf die finanzielle Unterstützung von Seiten ihres Vaters, ohne sich ausdrücklich vom Elternhaus loszusagen, und verdiente sich ihr Studium hauptsächlich als Verkäuferin in Geschäften der gehobenen Herrenausstattung. Sie selbst war elegant und geschmackvoll gekleidet. Sie bevorzugte die Farbe Rot, die gut zu ihrem Haar passte.

Ich lernte Alice kennen, als ich während einer Ausbildungsphase für den Diplomatischen Dienst in Madrid war. Wir befanden uns im selben Kurs, in dem es um die politischen Besonderheiten der südlichen lateinamerikanischen Länder ging, insbesondere die des Mercosur. Wir freundeten uns an, da wir uns beide etwas als Außenseiter in dieser Ausbildung sahen, und bald darauf waren wir ein Paar, allerdings nicht unter den Augen der Öffentlichkeit, da dies nicht dem Ausbildungsreglement entsprach. Ich erfuhr, dass Alice darauf Wert legte, von guten Freunden Emma – nach einer ihrer Großmütter – genannt zu werden und dass ihr erster Vorname nur dem Französischtick ihrer Mutter geschuldet sei. Dass mit Marie wisse sie aber auch nicht zu erklären, vielleicht habe es da irgendeine Tante gegeben. Meine Erklärung, dass damit schon ihre zukünftige Tätigkeit als Diplomatin im hispanoamerikanischen Raum, wo alle Frauen auch María hießen, angedeutet worden sei, gefiel ihr.

Emma trug nicht nur drei Vornamen, sondern hatte auch einen zweiten Nachnamen, den sie verschwieg, einmal weil die damit verbundene Verehelichung nicht allgemein bekannt werden sollte und zum zweiten weil die Namenskombination sie lächerlich machen konnte. Ihr Mann hieß offiziell Thomas Bouillon und hatte sich den Künstlernamen Toni Garn zugelegt. Es liegt nahe anzunehmen, dass er in der Modebranche tätig war. Das wäre nicht verwunderlich, da Emma ja in der Herrenkonfektion gearbeitet hatte und die beiden sich dort hätten kennen lernen können. In der Tat war Thomas/Toni Musiker. Er spielte als Bassgitarrist in verschiedenen Bands und ab und zu als Studiomusiker und verfügte daher über kein regelmäßiges Einkommen. Ihre Ehe sei, so erzählte Emma mir, nicht das Resultat einer oder zweier Leidenschaften, sondern der Vernunft. Da sie schon seit längerem befreundet seien, hätten sie geheiratet, um Thomas aus der finanziellen Klemme zu helfen, und von ihrem gemeinsamen Konto könne sich ihr Mann monatlich eine bestimmte Summe abheben. Als ich Emma kennenlernte, lief dieses Wirtschaftsmodell noch wie geplant, man schreib noch keine roten Zahlen. Ich hätte also keinen Grund zur Eifersucht.

Vor dem „Deal“ mit Tom/Toni, wie Emma es formulierte, hatte es eine längere Beziehung zu Hajo gegeben, einem Zahnarzt. Hajo war Liebhaber schneller Autos, und demzufolge war auch deren Verschleiß groß. Sein Lieblingsmodell war ein roter Volvo-Sportwagen, ich nehme an, eine Art Oldtimer, der überlebte, weil er vorsichtiger gefahren, aber auch häufig von einer Markenwerkstatt gepflegt wurde. Dies verursachte beträchtliche Kosten, für die zum großen Teil Emma aufkam. Weitere Kosten entstanden durch die Modernisierung der Zahnarztpraxis. Auch daran beteiligte sich Emma in hohem Maße. Vermutlich betrachtete sie diese finanzielle Unterstützung als Investition in ihre Zukunft, da die Heirat mit Hajo gemeinsam geplant war. Eines Tages musste, so hieß es, der Zahnarzt zu einem Zahnärztekongress nach Kapstadt. Nach etwa drei Tagen brach der regelmäßige Telefonkontakt zwischen Emma und Hajo plötzlich ab, und Emma gelang es auch nicht herauszufinden, wo genau sich ihr Freund aufhielt. Eine Woche später stellte sich heraus, dass die erst kürzlich modernisierte Praxis verkauft worden war. Trotz intensiver Nachforschungen – auch die Polizei war eingeschaltet worden – blieb der Volvo-Fahrer spurlos verschwunden.

Diese Geschichte erfuhr ich, nachdem unsere Beziehung sich gefestigt hatte, aber wir räumlich getrennt an verschiedenen Orten eingesetzt waren. Nach den Kursen in Madrid, die auch dem intensiven Sprachtraining dienten, gingen wir noch für einige Monate nach Deutschland zurück, um unsere Ausbildung zu beenden. Nach deren Abschluss wurden wir unterschiedlichen Standorten zugeordnet: Emma ging eine Zeitlang an die Madrider Deutsche Botschaft und ich kam nach Portugal, zum Deutschen Konsulat in Porto. Die Distanz zwischen den beiden Städten ist nicht groß, weniger als zwei Stunden mit dem Flugzeug. Unser Wochenendrhythmus wurde unterbrochen, als Emma, wie sie sagte, aus familiären Gründen und auch wegen ihrer gleichnamigen Großmutter nach Südafrika reisen musste. Ich erinnere mich, dass diese Großmutter, sie wurde als starke Frau bezeichnet, als junge Frau einige Jahre in Afrika verbracht hatte und dass ihre Familie mit dem Kakaohandel zu tun hatte. Und jetzt ging es wohl um die Klärung von Erbstreitigkeiten. Aber gab es in Südafrika nicht eher Weinanbau als Kakaoplantagen? Zwei Wochen später sahen wir uns in Lissabon wieder, in einer Stadt, die wir noch kennenlernen wollten. Wir fanden in der Alfama ein kleines rot gestrichenes Hotel, verbrachten drei wunderbare Tage im portugiesischen Frühsommer und schmiedeten Zukunftspläne.

Emmas Großmutter soll eine sehr faszinierende Frau gewesen sein, zwar nicht von ins Auge fallender Schönheit, doch relativ groß, dabei feingliedrig und blond. Sie war die Tochter eines Hamburger Konsuls, der trotz vorrangig geschäftlicher Interessen nichts dagegen hatte, dass seine Tochter sich stark für Musik und Literatur interessierte, wenn sie nur später das Kaufmännische in Ehren hielt. Auf Alice Emma Marie hat sie wohl einen starken Einfluss gehabt, sowohl was ihr Aussehen, ihren Charakter, ihre Bildung betraf. Überliefert ist die Formulierung der Großmutter gegenüber ihrer Enkelin: „Werde nur keine Madame Bovary!“ Ob sich diese Forderung auf das Schuldenmachen oder die unglückliche Liebe bezog, war nicht mehr zu klären.

Es war uns gelungen, auch beruflich gemeinsame Wege zu gehen. Schon in der Ausbildung lag der Schwerpunkt auf Lateinamerika. Wir sollten nun beide in Buenos Aires eingesetzt werden. Trotz starker beruflicher Anspannung in Portugal hatte ich schon damit angefangen, mich in die argentinische Literatur einzulesen. Der Schwerpunkt meiner neuen Tätigkeit sollte auf dem kulturellen Sektor liegen. Experten rieten mir, ich müsse unbedingt Borges lesen. In einem Erzählband beeindruckten mich besonders die Erzählungen „Das Evangelium nach Markus“, „Deutsches Requiem“ und „Emma Zunz“. Den letzten Titel betrachtete ich als Entdeckung, schon allein vom Namen her, und wollte meine Emma mit dem Inhalt vertraut machen. Die allerdings winkte ab und gab zu verstehen, dass sie diese Geschichte schon längst kenne und für sie diese Emma ein alter Hut sei, dank ihrer Großmutter.

Wir steckten in den Vorbereitungen für den Umzug, als eine Nachricht aus Hamburg uns aufschrak. Tom/Toni hatte das mit Emma gemeinsame Konto restlos geplündert und soll aus Deutschland verschwunden sein. In Musikerkreisen gab es das Gerücht, er könne sich nach Acapulco abgesetzt haben. Emma schien sich nach anfänglicher Enttäuschung und Wut wieder gefangen zu haben und ließ sich ihre Gefühle nicht anmerken, sondern erklärte, da müsse sie jetzt durch. Wie zur Ablenkung nahm sie daher gern einen diplomatischen Auftrag an, der sie von Madrid nach Mexiko Stadt führte, und von dem sie behauptete, er habe mit unserer späteren Tätigkeit in Argentinien zu tun. Da ich selbst sehr beschäftigt war, fragte ich nicht weiter nach.

Emma war drei Wochen lang abwesend. In dieser Zeit nahm ich mir ein Wochenende, um nach Barcelona zu fliegen. Neben Gaudí interessierte mich die Architektur nicht weiter, und ich verbrachte viel Zeit in Buchläden, um verschiedene Ausgaben von Jorge Luis Borges’ erzählerischem Werk aufzutreiben. Das war in Portugal kaum möglich. In einen Buchladen kehrte ich immer wieder gern zurück, weil mir eine junge Buchhändlerin aufgefallen war, die sich mit Borges etwas auskannte. Ich nahm mir ein Herz sprach sie wieder an – ich fürchtete, ich würde ihr lästig fallen, und während des Gesprächs stellte sich heraus, dass sie nur aushilfsweise Bücher verkaufte, eigentlich Latein studiert habe und jetzt auf die Einweisung in eine feste Stelle an einem Colegio warte. Etwas mutiger geworden, erkundigte ich mich nach Möglichkeiten der Abendunterhaltung in der „katalanischen Kapitale“, wie ich etwas maliziös formulierte, und lächelnd fragte sie mich, ob ich sie heute Abend auf eine Vernissage begleiten wolle.

So lernte ich T. kennen. Natürlich hieß sie auch María. Wir verbrachten den Rest des Wochenendes zusammen und wollten uns wiedersehen. Zurück in Porto, fand ich eine Nachricht, dass Emma ihren Auftrag erledigt habe und sie in Kürze wieder in Madrid sei. Im Laufe der nächsten Tage telefonierte ich täglich mit T., und ich war mir nun sicher, dass ich mich in sie verliebt hatte und sie offensichtlich mich sehr mochte. Fantasien von einem gemeinsamen Leben mit ihr blockierten meine Gedanken. Ich war mir sicher, dass T. die entscheidende Rolle in meinem Leben spielen würde. Wie sollt ich das Emma beibringen? Da ich Emma als nüchtern, realitätsnah und karriereorientiert einschätzte, als Frau, die ihre berufliche Zielsetzung nicht durch Emotionen aus den Augen verlor, setzte ich mich daran, ihr einen Brief zu schreiben und ihr meine Gefühlssituation und Entscheidung für T. darzulegen, wohl wissend, dass die Pläne für Buenos Aires zu den Akten gelegt werden müssten.

Eine Zeitlang hörte ich von Emma nichts mehr, umso intensiver kommunizierte ich mit T.. Ich betrieb die Auflösung meiner Versetzung nach Südamerika und versuchte einen Posten am Konsulat Barcelonas zu bekommen, zweifellos einen geringeren Posten als der zunächst geplante. Als ich, noch in Porto, morgens die Pressenachrichten der größeren Zeitungsblätter der Iberischen Halbinsel durchging, um danach die Post zu sichten, stieß ich auf eine mich schockierende Nachricht. Es war von einer jungen Deutschen im diplomatischen Dienst die Rede, die beschuldigt wurde, zwei Morde begangen zu haben, einen in Südafrika, einen in Mexiko. Ob es weitere Morde gebe oder ob sie geplant gewesen seien, sei möglich, man investigiere noch. Bleich, mit zitternden Händen sah ich nach der Post. Ein unauffälliger Brief, der mit Verzögerung angekommen war, keinen Absender und eine maschinengeschriebene Adresse besaß, enthielt nur den folgenden in einer mir bekannten Handschrift mit schwarzer Tinte verfassten Satz: „Natürlich verachte ich Emma Bovary und bewundere Emma Zunz.“*

Dem Absendedatum nach muss der Brief längst aufgegeben worden sein, bevor die Zeitungsnachrichten erschienen.

*Borges lässt Emma Zunz einen raffinierten Plan schmieden, um die Schmach tödlich zu rächen, die ihr und ihrem Vater angetan wurde.

Die Blaue Giraffe

von Johannes Lengert, Sommer 2016

Namibia war bisher nie für mich als Urlaubs- oder Reiseland in Frage gekommen. Nicht einmal aus beruflichen Gründen hatte ich es dorthin geschafft. Natürlich war mir die grundsätzliche politische und historische Situation bekannt. Deutsch-Südwest-Afrika als Kolonie des deutschen Kaiserreiches, die damit verbundene Herero- Problematik, der Befreiungskampf der SWAPO, die jahrzehntelange Abhängigkeit von der Südafrikanischen Republik. Und schließlich hatte ich vor Jahren Uwe Timms engagierten Roman „Morenga“ gelesen. Ferner war mir bekannt, dass es in diesem Land noch einige deutsche Farmer gab, von denen einige die alten Verhältnisse für besser als die gegenwärtigen hielten. Selbst die von Freunden und Bekannten in den höchsten Tönen gelobten geografischen Schönheiten, die Flora und Fauna hatten mich unbeeindruckt gelassen. Wie es dazu kam, dass ich doch nach Namibia reiste, hatte mit der „Blauen Giraffe“ zu tun.

Die Sonne ging unter, und man kann am Düsseldorfer Rheinufer, wochentags, wenn die Tagesausflügler die Rheinpromenade noch nicht überschwemmt haben, ihr bei einem Glas Altbier oder einem Glas Rosé gut dabei zusehen und seinen Gedanken nachhängen, zumal wenn man vorher in der Kunsthalle die aktuelle Ausstellung zum bildnerischen Surrealismus gesehen hat. Max Ernst hatte mich beeindruckt. Ich hatte noch das Bild der das Jesuskind züchtigenden Jungfrau (vor drei Zeugen: André Breton, Paul Éluard und dem Maler) im Kopf. Vieles verflüchtigt sich nach einem Museumsbesuch, der letztendlich immer anstrengend ist, weil man Neues aufnimmt, es mit Bekanntem verknüpft, nach Erklärungen, Verbindungslinien, nach Anregungen sucht. Die Erschöpfung hat auch zu tun mit dem Farbenrausch, den ich suche und dem ich mit hingeben möchte. Vielleicht war gerade dieser letzte Punkt nicht das Ziel surrealistischer Malerei, doch hatte mich gerade ein Bild in seinen Bann gezogen, das eigentlich nur eine Variation einer einzigen Farbe war und das noch nicht einmal ein einzigartiges Sujet darstellte. Es zeigte nur ein Tier. Ein mir bislang unbekannter Maler hatte im Format vierzig mal fünfzig Zentimeter, also eher kleinflächig, eine Giraffe in blauen Farben ins Bild gesetzt und auch Vorder- Mittel- und Hintergrund, mit der derselben Grundfarbe spielend, gestaltet. Zuerst war mir an der Köperform nichts aufgefallen. Das schlanke Tier sah mich unbeteiligt mit, ja, blauen Augen an, hatte die Ohren hochgestellt und schien in einer abstrakten Savannenlandschaft wie ein Solitär. Es gab keine Herde, keine anderen Tiere, keine Feinde. Der Hintergrund wirkte ätherisch, wenig plastisch, sehr flächig, kaum perspektivisch. Das Außergewöhnliche erschloss sich mir bei näherem Herantreten. Da das Bild relativ klein war, musste ich mich über das Absperrungsseil zum Bild hin beugen. Ich mache das sehr ungern. Das Aufsichtspersonal will immer gleich Verdacht schöpfen und einen Kunsträuber in einem vermuten, das übrige Publikum sieht her und glotzt, anstatt sich mit den ausgestellten Objekten zu beschäftigen, und da sah ich es oder besser sie, die sieben Beine. Die Giraffe besaß vier Hinter- und drei Vorderbeine. Nun erklärte sich mir die Hängung bei den Surrealisten noch besser. Ein zweites Mal musste ich mich vorbeugen, um auf dem kleinen in drei Sprachen gedruckten Schildchen rechts neben dem Giraffenbild den Namen des Malers zu lesen. Er sagte mir nichts. Er gab sich mir nicht bekannt. Es gab auch keinen weiteren Hinweis auf weitere Bilder von ihm oder eine Malerschule. Also ließ ich mich weiter treiben, sah mir die restlichen Bilder an, war aber unkonzentriert, verließ schließlich die Ausstellung und begab mich ans Rheinufer. Ich brauchte Zeit, um nachzudenken. Die Rheinterrassen waren trotz der kalten Jahreszeit geöffnet. Heizpilze und Decken schützten gegen die Kälte. Ich bestellte einen Rosé südfranzösischer Herkunft, den leicht moussierenden Rosado Alquézar, den ich aus den spanischen Pyrenäen kannte, gab es hier leider nicht. Die leichte Abendbrise reinigte ein wenig die stickige Luft, die den ganzen Nachmittag auf der Stadt gelastet hatte. Die Sonne versank hinter dem linken Rheinufer, genauso kitschig, wie ein Postkartenfotograf ihren Untergang gemalt hätte. Der Museumsbesuch sollte mich ablenken. Nicht, dass mir das Ausstellungsthema egal gewesen wäre. Mitnichten. Ich war gerade wegen der Surrealisten-Exponate in diese Stadt gekommen. Das Ausstellungsarrangement und der Katalog hatten gute Kritiken in der überregionalen Presse bekommen. Eine Zeitlang war ich abgelenkt, doch die Sache mit Lisa ließ sich nicht einfach wegwischen, so wie man eine Schultafel sauber wischt. Die Aussprache hatte nichts genutzt. Wahrscheinlich war es auch keine ehrliche Aussprache gewesen, eher das Aufwärmen bekannter gegenseitiger Vorwürfe, etwa, warum ich nicht endlich konsequent handle, die Beziehung richtig leben wolle, statt auszuweichen, scheinbar aus beruflichen Gründen, Arbeit vorschiebend, um abreisen zu können, angeblich als Location Scout, wer weiß, was da denn dahinter stecke, oder sie dann doch tatsächlich beenden sollte, die Beziehung, endgültig, für immer. So, in der doppelten Verneinung endete ihr Part. Der meinige war nicht weniger eingeübt, sie sei ja kaum noch zu Hause, immer nur auf der Karriereleiter unterwegs und abends sei sie zu müde, um ins Kino oder in Galerien zu gehen. Ich übertriebe denn auch mit meinem Kunsttick, das ständige Aufsuchen von Museen, das ich mit meinen Beruf rechtfertigen wolle, was Filmsettings denn mit hängenden Bildern zu tun hätten. Der gut gekühlte Rosé hatte eine erfrischende Wirkung, und ich fühlte eine leichte Entspannung. Auf der Restaurant-Terrasse saßen nur wenige Leute, trotz des schönen Wetters und der Aussicht auf den Rhein. Ein älteres Ehepaar hatte sich einen kleinen Imbiss bestellt, ein turtelndes junges Paar nahm sich ein Drei-Gänge-Menü vor. Offensichtlich hatten die beiden mit der Weinauswahl Probleme. Der Kellner hatte sie wohl nicht gut beraten. Immerhin war ich mit meinem Rosé zufrieden, dachte schon daran, mir auch die Speisekarte kommen zu lassen, als ich wieder an das blaue Bild denken musste. Warum war nichts über den Maler herauszufinden gewesen? Selbst der Katalog zeigte eine Leerstelle, mehr noch, das Bild tauchte im Katalog gar nicht auf. Ein Versehen? Ein Fauxpas der Druckerei? Absicht der Herausgeber? Wenn ja, aus welchen Gründen? Ich nahm mir vor, am nächsten Tag im Internet zu recherchieren, wenn es denn im Hotel einen entsprechenden Zugang gab. Meine Buchung bezog sich auf drei Tage. Ich wollte noch in das Museum der Kunstakademie und in die Ausstellungsräume des Landesmuseums. Jetzt brauchte ich etwas zu essen. Ich rief den Kellner, orderte die Speisekarte und bat um die restliche Flasche des Weines aus Südfrankreich. Die Internet-Recherche nach dem Abendessen auf den Rheinterrassen hatte noch kein zufrieden stellendes Ergebnis gebracht. Der Name des Malers auf dem Schildchen lautete Otto Frivol. Sollte man beim Nachnamen die erste oder zweite Silbe betonen? Die direkte Suche nach Vor- und Zuname erbrachte nichts. Ersetzte man allerdings das I in frivol durch ein O, ergab sich Frovol und dann weiter entwickelt Frohwohl, eine Spielerei, die mich auf eine Spur brachte. Aber das Internet schwieg zu Otto Frohwohl und zeigte mir seine Grenzen. Ich kenne nicht viele Kunstexperten oder Galeristen persönlich, immerhin war ich flüchtig mit dem Kurator des Landesmuseums bekannt. Wir waren uns auf einer Vernissage in Hamburg, in einer kleinen Galerie, begegnet, als Lisa noch daran Interesse zeigte und nicht mehr wie heute nur ihre Schule im Kopf hatte. Dieser Kurator hatte zwar für ein persönliches Gespräch keine Zeit, versprach aber, eine E-Mail mit Informationen zu schicken, spätestens am Abend. Im Grunde ist die Farbe blau heutzutage nichts Besonderes mehr. Früher, in der Antike und im Mittelalter, als man die Farbe aus Indigo oder Lapislazuli, also aus einer Pflanze oder einem Halbedelstein herstellen musste, war sie kostbar und wenig verwendet. Infolge chemischer Herstellungsverfahren seit dem 19. Jahrhundert gibt es alle möglichen Varianten des Blau, zum Beispiel bei Stoffen von den früheren Uniformen bis zu Jeans heute. Und für die Maler gibt es ein Sortiment blauer Acrylfarben. Aber Franz Marc malte doch schon Große Blaue Pferde jenseits von banalem Realismus! Dann dachte ich an Henri Roussau, an sein Bild mit dem Tiger im Dschungel, scheinbar natürlich gemalt, aber auf seinem Rücken sitzt der Maler selbst, die Ukulele spielend. Von Dalí gibt’s die Elefanten mit langen Spinnenbeinen vor wüstenartigem Hintergrund. Wo lag nur der Schlüssel zur „Blauen Giraffe“? Die eher klassischen Surrealisten mussten nicht die Lösung sein. Und Yves Klein hatte sicherlich nichts damit zu tun. Ich versuchte es mit den Romantikern, mit Novalis‘ Blauer Blume und dem Blues, den ich bald wohl selbst bekam. Es stellte sich kein Sinn her. Du musst zielstrebiger sein. Du lässt dich manchmal so hängen. Lisas Worte gingen mir durch den Kopf, als sie ihre Bewerbung auf eine Schulleiterstelle rechtfertigte. Meine Arbeitsweise reichte mir doch zum Leben. Ich brauchte ihre nicht zu kopieren. Ich konnte reisen, bei Bedarf organisieren, mir die Welt ansehen, unter der Bedingung, geeignete Drehorte für Filmproduktionen zu finden. Ich war größtenteils für Lateinamerika zuständig. Da jedoch wurde nicht so viel gedreht, und schon wieder schwebte Lisas Vorwurf über mir. Aber ich hatte auch Zeit für meine Interessen, oder war es schon ein Tick, dass ich dauernd in Museen war, wie jetzt, in Düsseldorf? Tatsächlich war vom Kurator eine Nachricht gekommen. Ich hätte Otto Frivols Giraffe fotografieren sollen! Auch wenn dies offiziell nicht gestattet war,…. mit dem Smartphone in einem unbeobachteten Augenblick …. Jetzt verfügte ich lediglich über Erinnerungen, die mit dem zeitlichen Abstand immer vager wurden. Wie war das denn mit der Vegetation, gab es die überhaupt nicht oder doch? Und die Farbnuancen. Kam auch türkis vor oder nur hellblau? Obwohl in meinem Gdächtnis viele Bilder recht gut abgespeichert sind, stieß ich auf Erinnerungslücken, gerade jetzt. Ich war unkonzentriert. Sie wollte Schulleiterin werden. Kein Beruf ist derartig Kräfte zehrend, anstrengend, mit wenig Prestige ausgestattet und dann zu schlecht bezahlt. Das Unterrichten von Erdkunde und Biologie war ihr wohl nicht genug. Da musste erst noch die Oberstufenleitung dazu. Dann die stellvertretende Schulleitung. Mir hatte es nach der Referendarzeit gereicht. Ich bin danach ausgestiegen. Für mich war damit meine Schulzeit endgültig beendet. Alexander von Humboldts Südamerikanische Reise, die Lektüre dieses Buches hatte den Ausschlag für meine Fächerwahl an der Universität gegeben. Dann wollte ich nur noch nach Südamerika. Es gibt, so hieß es in der Kurator-Mail, einen Maler Frohwohl. Möglicherweise mit dem Vornamen Otto. Dabei kann es sich um ein Pseudonym handeln. Im Archiv gibt es ein paar alte Ausstellungskataloge. Da wir dauernd Wechselausstellungen machen, ist die Fluktuation hoch. Es fehlt ein bisschen die Übersicht. Der Katalog ist aus den siebziger Jahren. Ich hinterlasse für Sie eine Kopie des letzten Exemplars an der Pforte. P.s. Bitte halten Sie mich über Afrika auf dem Laufenden. Ihr Forschergeist hat auch mein Interesse geweckt.

Offensichtlich hatte ich die Blaue Blume gefunden, oder sie war in erreichbarer Nähe. Aber das hieß, ich musste auf Wanderschaft gehen, wieder hinaus in die Welt. Das kam mir nicht ungelegen, obwohl ich, bekanntermaßen zu wenig ehrgeizig, eine Zeitlang in heimischen Gefilden verbringen wollte. Die Kopie des alte Katalogs zeigte eine Präsentation verschiedener Künstler aus den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, die hier als Repräsentanten der Postmoderne galten. Beim Durchblättern fanden sich zwar einige dem Surrealismus anverwandte Bilder, aber nicht die Blaue Giraffe, sondern stattdessen andere Werke von Frivol und im Anhang eine Kurzbiographie. Frivols Bilder hatten kein wiederkehrendes Sujet, sondern offenbarten Phasen eines Künstlers, der auf der Suche war, aber niemals sich auf eine Mode würde festlegen können, der eigentlich für Galerien, die ja Moden und Stilumbrüche brauchten, uninteressant war. Die Bilder im Katalog waren kleinformatig, auf der Kopie farblich noch gut erkennbar, mit Angaben über die wirklichen Größenverhältnisse. Auffallend war eine Serie von Bildern, die den aktuellen Gemälden von Gerhard Richter ähnelten, verschlierte Farben, offenbar mit einem Rakel aufgetragen und dann von oben nach unten verteilt, so dass sich die ursprünglichen Grundfarben leicht vermischten. Überhaupt, das fand ich schnell heraus, ging es Frivol offensichtlich immer wieder um die Grundfarben rot, blau, gelb, dann gemischt als orange oder violett und manchmal grün. Es gab auch Selbst- oder Familienporträts, die expressionistisch wirkten und mit der Plakatkunst verwandt waren. Und schließlich, am Schluss, drei Bilder unterschiedlichen Formats, die so etwas wie eine blaue Periode bildeten: ein großformatiges Gemälde in Blautönen, streng geometrisch aufgebaut, dessen Flächen wie Glas-oder Spiegelwände wirkten, mit dem bezeichnenden Namen „Liebe zur Geometrie“, ein kleineres Format, dunkelblau, senkrecht schmutzig-weiß aufgehellt, aus dem Augen und Mund einer Frau herausblickten, alles mit blauen Waagerechten, wie mit Gitterstäben gequert, das die Bezeichnung „Frau in Blau“ trug. Und es gab ein ein drittes Bild, in der Größe des zweiten, ein Frauenporträt, das mich melancholisch anblickte, mit dem leichten Lächeln der La Gioconda, allerdings mit nach links geneigtem Kopf. Durch die ausschließliche Verwendung von Blau- bis Weißtönen entsteht der Eindruck einer Skulptur, einer Marmorbüste im Mondlicht. Dieses Bild hatte Frivol „Mona als Lisa“ genannt. Hierher musste auch die Blaue Giraffe gehören! Das Frauenporträt gab mir die Idee ein, nach Italien zu ziehen, so wie Eichendorffs Taugenichts. Ich verwarf den Gedanken schnell wieder, da dort wohl keine Giraffen-Maler zu finden wären. Aber wo steckte Frivol oder hielt er sich versteckt? Und warum wollte ich ihn überhaupt finden. Die Vorstellung, die Person ausfindig zu machen, ergriff allmählich von mir Besitz. Die Kurzbiografie konnte erst einmal etwas helfen.

Kurz erwog ich, nach Hamburg zu reisen, um Lisa von meinen Entdeckungen zu berichten, zumal mich das blaue Porträt sofort an sie erinnerte. Es hatte aber nicht die harten Züge, die sich schon in Lisas Gesicht einzuschleichen begannen. Schön waren unsere gemeinsamen Abende gewesen, wenn wir uns in der kleinen Dach-Wohnung gegegenseitig vorlasen, was wir in Zeitungen und Büchern, mit denen wir beschäftigt waren, gefunden hatten. Noch gab es einen gemeinsamen Nenner, der vom Studium herstammte, denn wir hatten uns beim Geografiestudium kennengelernt. Sie hatte immer schon Afrika allen anderen Themen vorgezogen, mein Hauptinteresse galt ja Lateinamerika, deshalb auch das zweite Studienfach Spanisch. Lisa war nur einmal in Afrika, damals auf einer Großen Exkursion mit ihrem verehrten Professor Horst Mensching. Ich glaube, es war in den Ländern des Maghrebs. Sie schlug eine Dissertation zum Thema Trockenheit in Marokko aus, lieber ging sie in die Schule, um hier ihre Meriten zu verdienen. Nach Hamburg fuhr ich dann doch nicht. Ich war nur ein einziges Mal in Afrika, nicht lange, in Togo und Ghana. Eine Produktionsfirma hatte mich hingeschickt, um Eindrücke zu sammeln. Ein Film wurde nicht gedreht. Afrika! Die blaue Giraffe hatte damit zu tun und möglicherweise ihr Schöpfer! Düsseldorf zeigte sich auch an diesem Abend von seiner schönen Seite. Ich machte einen Spaziergang am Rheinufer entlang, die Luft war kühl, und es dunkelte, ruhig floss der Rhein, ich suchte einen Platz im Abendsonnenschein. Auf einer Bank, abseits von bereits einsetzenden Trubel, wollte ich die Kurzbiografie über Frivol lesen. Das Rheinwasser schlug plätschernd gegen die Ufersteine. Langsam breitete sich Stille aus. Möwen überflogen die Uferpromenade, flogen mir fast ins Haar und stoben davon. Eine leichte Brise kam auf, und ich begann zu frösteln. Was mir vorhin noch leicht möglich erschien, einfach nach Hamburg zu reisen, war mit einem Mal unmöglich. Zu groß waren inzwischen die Differenzen zwischen Lisa und mir. Gerade deshalb saß ich ja hier. Wir waren Fremde geworden. Ich hatte eine lange Zeit geglaubt, dass sich die Gegensätze überbrücken ließen, wenn nur ein tiefes Begehren da war. Aber die Auseinandersetzungen in letzter Zeit ließen davon kaum etwas übrig. Es ergriff mich plötzlich mit wildem Weh, und die schönste Jungfrau sitzet dort oben im Norden. Egal, ich musste jedenfalls fort. Die Lektüre der Biografie ergab, dass ein gewisser Hans Günther Frohwohl ursprünglich Restaurator war, in verschiedenen Kirchen gearbeitet hatte und sich dann der Leinwand zuwandte, um nur noch nach eigenem Gusto zu malen. Man könnte sagen, dass er einige „Lehrjahre“ in Italien verbrachte, um die alten Meister zu studieren. Immerhin bildete sich eine Gruppe Gleichgesinnter, die zwar technisch versiert, aber inhaltlich und farblich neue Wege beschreiten wollte. Seine ersten eigenständigen Bilder waren Akte, die zwar schockieren sollten, es auch taten, was wohl dazu führte, dass er sich nun das Pseudonym „Frivol“ gab. Danach verbrachte er wiederum längere Zeit im Ausland. Der Katalog spricht von der südlichen Hemisphäre. Die Angaben bleiben ungenau. Es wird eine Quelle zitiert, nach der sich Otto (wie er sich jetzt nannte) Frivol eine Farm in Südwestafrika gekauft hat. Aha. Er hatte eine Farm in Afrika. Die gezeigten Bilder sollen aus seinem Nachlass sein. Damit enden die Informationen.

Noch bin ich jenseits von Afrika. Ich gehe in ein Reisebüro, um mir Broschüren über das südliche Afrika zu besorgen. Obwohl ich das Internet regelmäßig nutzte, möchte ich manchmal Seiten durchblättern, nicht nur digital, sondern haptisch, mit meinen Händen. Deshalb lese ich täglich die Zeitung als Printmedium, auch wenn ich mir dabei die Finger schmutzig mache. Beim Durchblättern der Reisejournale stoße ich auf die Big Five. Zunächst weiß ich nicht, was gemeint ist, aber dann erkenne ich es an den Bildern. Es ist das Großwild, das man auf Safaris sehen, aber nicht jagen darf: der Elefant, das Nashorn, der Büffel, der Löwe und der Leopard. Die Giraffe gehört nicht dazu. Die fünf sind abgebildet vor leuchtenden Landschaften. Rötlich-braun, hell- bis dunkelgrüne Büsche und Bäume, hohes Gras. Klar. Savanne. Feuchtsavanne. Trockensavanne. Dornstrauchsavanne. Hier wohl Feuchtsavanne kurz nach der Regenzeit. Der Fotograf hat kein Klischee vermieden. Lisa ist ja Savannenspezialistin. Damit hat sie die Schüler im Unterricht gequält. Aber eine geführte Safari will ich mir nicht antun. Und die ist außerdem extrem teuer. Es muss anders, billiger gehen. Mir fällt Afrika-Kurt ein. Nicht verwunderlich, da mir Afrika nicht mehr aus dem Kopf geht. Afrika-Kurt lernte ich während meiner Lehrerausbildung kennen. Der Spitzname rührt daher, dass er alle seine Ferien in Afrika verbrachte, Unmengen von Fotos schoss und diese einem auserwähltem Publikum an Dia-Abenden zeigte. Er gilt als Afrika-Experte und liebt die Afrikanerinnen. Kurt hielt es länger im Schuldienst aus als ich, hat aber inzwischen den Dienst quittiert, war eine Zeitlang Entwicklungshelfer, ist Händler afrikanischen Kunsthandwerks und organisiert Gruppenreisen in Afrika. Er half mir auch damals in Westafrika. Warum nicht auch jetzt. Ein Anruf bei ihm ergibt, dass er nicht zu Hause ist, einer seiner Söhne setzt mich davon in Kenntnis, dass es da ein paar Leute gebe, die nach Namibia reisen wollen, er selbst könne aber nicht teilnehmen. Da gibt es einen gewissen Josef. Ich gebe dir seine Telefonnummer. Kannst einfach anrufen. Tschüss. Ja, Danke. Wie sind Otto Frivols Bilder nach Deutschland gekommen? Der Kunstmarkt ist nicht leicht überschaubar. Und nach welchen Kriterien werden überhaupt Ausstellungen organisiert? Ich erinnere mich daran, dass ich vor einigen Jahren mit Lisa ein weiteres Mal in Madrid war. Groß angekündigt war eine Goya-Sonderausstellung. Natürlich mussten wir sie sehen, zumal der Eindruck vermittelt wurde, dass Gemälde gezeigt würden, die bisher unzugänglich gewesen seien. Wir standen mehr als eine Stunde in der Schlange vor der Kasse. Mit Erstauen und einer großen Portion Wut stellten wir fest, das wir vor Jahren im selben Prado alle Bilder schon einmal gesehen hatten, denn sie waren Bestandteil der ständigen Goya-Präsentation, jetzt nur anders arrangiert. Ähnlich ging man wohl mit der modernen Kunst zu Werke: Aufmerksamkeit erregen. Na, zunächst musste ich mal Otto aufspüren! Ich rufe Josef an. Er ist interessiert, da die derzeitige Gruppe nur aus drei Leuten besteht. Vier seien besser, dann könne man einen Geländewagen mieten und auch gruppendynamisch liefe es dann glatter. Sie drei hätten sich schon auf den Monat Februar geinigt, aus klimatischen Gründen und weil die Touristenströme geringer seien, also es keine Probleme mit der Unterkunft gebe. Wir vereinbaren ein gemeinsames Treffen zu viert, sind uns sympathisch, et causa finita est, so Josefs Kommentar. An einem Montag Abend landen wir in Windhoek. Außer mir und Josef, Beate und Frieda, Josefs jüngere Kusine. Bis auf Frieda, die Tierärztin ist, sind ale Lehrer oder waren es. Josef unterrichtet Latein und Geschichte, Beate war für Deutsch und Mathematik zuständig. Sie ist die Älteste, Pensionärin und Weltenbummlerin, mit allem wohlvertraut. Frieda schleppt eine professionelle Fotoausrüstung mit. Kein Tier soll ihr entkommen. Meine wahren Reisemotive habe ich bisher verschwiegen. Ich gebe Interesse an der Landschaft, der Geologie, den Sozialstrukturen vor, habe auch meine Tätigkeit als Location Scout nicht verheimlicht, denn unter diesem Vorwand würde ich mich leichter bei Bedarf absetzen können. Eagle’s Rock heißt unsere erste Unterkunft, eine Lodge auf den Hügeln des Khoma-Hochlandes, einige Kilometer von der Hauptstadt Windhoek entfernt. Hier bleiben wir zwei Nächte, also habe ich einen Tag lang Zeit, mich auf Spurensuche zu begeben, wenn die andern einen Stadtbummel machen. Vorerst verbringen wir den Abend auf dem Gelände der Lodge, von dem aus ein beeindruckender Blick auf die namibische Savanne gelingt. Die untergehende Sonne lässt die hoch aufragenden Kakteen wie Geisterhände erscheinen. Ich notiere mir im Geiste diese filmische Dekoration und mache zur Sicherheit ein Foto mit dem Smartphone, das ich Lisa schicken könnte. Also in Bolivien habe ich das schon großartiger erlebt, höre ich Beates Stimme im Hintergrund. Da werden die Kandelaber-Kakteen bis zu sechzehn Meter hoch. Frieda hatte bestimmt schon die ersten Eidechsen fotografiert, denn von den Big Five ist hier noch nichts zu sehen. Höchstwahrscheinlich waren die Eidechsen in Bolivien auch viel größer als hier. Ich genieße im hic et nunc, ist Josefs Kommentar. Ich finds großartig, außerdem schmeckte mir die Antilope, und der Wein war auch gut. Josef war leicht zufrieden zu stellen. In schwierigen Situationen griff er zu Seneca, dessen philosophische Schriften er als Reclamheft mit sich führte. Anderntags in Windhoek begebe ich mich zur Stadtverwaltung, um etwas über die Farmen deutschstämmiger Siedler herauszubekommen. Mein Anliegen wird nicht verstanden, oder man tut zumindest so, denn die junge etwas füllige Beamtin verweist mich immer wieder ans Nationalmuseum. Gut. Dann eben ins National Museum. Dort bin ich am falschen Ort: hier wird rein Historisches ausgestellt. Aber ich sollte mal in die National Galerie von Namibia gehen, die hätten moderne Kunst. Schon bald bin ich im richtigen Haus, einem modernen Gebäude aus den Neunzigern, in dem Joe Madisia (* 1954) gezeigt wird, ein zeitgenössischer Künstler aus Namibia. Es gibt kaum Besucher, und ich finde einen leitenden Angestellten, der mir weiterhilft. Ich erfahre, dass es intensive Beziehungen zu einigen deutschen Museen gibt, die auch schon Werke von Madisia ausgestellte haben, und als ich den Namen des Kurators aus Düsseldorf erwähne, blüht mein Gesprächspartner auf und gerät ins Schwärmen. Ja, sie würden manchmal deutsche Künstler präsentieren und Otto Frivol sei ihm nicht unbekannt. Ach ja: hier hing mal ein Frivol! Wer dahinter stecke, wisse er nicht. Allerdings hätten sich im Norden des Landes einige deutschstämmige Farmer niedergelassen, und an der Küste in Swakopmund würde ich mit Sicherheit fündig werden, auf der Suche nach Frohwohl. Das traf sich gut. Unsere Reise führte zunächst nach Norden, schlug einen Bogen nach Westen und Süden, unter anderem nach Swakopmund. Ohne große Probleme konnte ich meine Interessen weiterverfolgen. Die Rundfahrt durch das Land war von Uniquue Tours & Safaris organisert worden, so dass unsere Logdges schon gebucht waren und somit auch ein Zeitrahmen abgesteckt war, aus dem nicht auszubrechen war. Frieda hatte schon in Deutschland die Planung in die Hand genommen und mit Beate zusammen die Route festgelegt. Josef hatte sich herausgehalten, er ließ seine Kusine gewähren, in die er, wir mir schien, verliebt war. Ich war als Späteinsteiger vor vollendete Tatsachen gestellt, beklagte das jedoch nicht. Zwar war mir als Geografen an Landschaft, Vegetation, Gebirgsformationen und Wüste gelegen, zwar wollte ich Farbeindrücke, durch Sonneneinstrahlung und Schattenbildung hervorgerufen, sammeln, aber mit der Tierwelt, den Big Five im Besonderen, hatte ich wenig zu tun. Das war für die anderen drei das Wichtigste. Wir waren in Doppelzimmern untergebracht, die Männer und Frauen jeweils zusammen. Josef und ich kamen gut miteinander klar, die beiden Frauen hatten sich angefreundet, eine gruppendynamisch interessante Konstellation, unter der Josef offenbar litt, aber die er mit stoischer Grundhaltung durchzustehen schien: Si vis amari, ama! Gar wunderlich sind doch die Menschen. Ich halte mich lieber an Heine oder Dr. Kästners Lyrische Hausapotheke. Wie es schien, ging meine Romanze mit Lisa sachlich zu Ende, aber es war ein Ende, das ich mit allen Mitteln hinauszuzögern versuchte. Ich hätte dich nicht gehen lassen sollen! (Nicht meinetwegen. Ich bin gern allein.) Und doch: Wenn Frauen Fehler machen wollen, dann soll man ihnen nicht im Wege sein. Windhoek war stadt- und sozialgeografisch an mir vorübergegangen. Aber dafür blieben mir vielleicht noch die Tage vor dem Weiterflug nach Kapstadt. Unsere Route führte jetzt circa dreihundertfünfzig Kilometer nach Norden, in Richtung Waterberg. Genau in diesem Umfeld war auch die Farm, auf die mich der freundliche Museumsangestellte hingewiesen hatte. Beate setzte sich ans Steuer, Frieda vorn, wir Männer hinten. So ganz einfach war die Sache nicht, schließlich mussten wir uns auf Linksverkehr und auf die Steuerung rechts umstellen. Josef fuhr übrigens nie. Wenn Beate fuhr, nahm ich freiwillig hinten im Auto Platz, spielte dann den Gentleman. Josef war hager, sein graues Haar wurde etwas licht, zum Ausgleich ließ er sich die Barthaare stehen. Er ging leicht nach vorn gebeugt, sprach leise und hielt sich eher im Hintergrund auf, im Gegensatz zu Beate, die die Forsche gab. Für die Reise hatte er sich eine Art Safari- Kluft gekauft, gegen die Sonneneinstrahlung schützte er sich mit einer sandfarbenen Schirmmütze, die nach Art der Fremdenlegionäre einen ausklappbaren Nackenschutz hatte. Er hatte nichts Besserwisserisches an sich, wie man es häufig von Lehrern gewohnt ist, nur seine Lateinzitate ließen eine leichte akademische Überlegenheit aufscheinen, zeigten andererseits seine Gemütsbewegungen, wenn er wahrzunehmen glaubte, dass Frieda Beates Nähe statt seiner vorzog und er keinen Chance mehr für sich sehen wollte. Alea iacta est, war sein trauriger Kommentar. Beate konnte ich mir schon als strenge Lehrerin vorstellen, da sie immer die Zügel in der Hand halten und keinen Schwäche zeigen wollte. In gewisser Hinsicht war sie attraktiv, sehr schlank, die Haut leicht gebräunt, die Haare zum praktischen Bubikopf gekürzt. Das figurbetonte Kleid stand ihr gut. Ihr Gesicht, schmale Lippen, etwas zusammengekniffene kleine Augen, eine kräftige Nase, drückte trotzt aller Mitteilsamkeit Verschlossenheit aus, wirkliche Nähe ließ sie nicht zu. Und ihr Erfahrungsschatz war immer größer als der ihres Vorredners. Frieda war die kleinste von uns, hatte wie Beate blondes, aber schulterlanges Haar, das sie meistens hochgesteckt trug. Sie wirkte kräftig, trotzdem weiblich in ihren Körperformen und war zupackend, was sicherlich auch ihrem Beruf geschuldet war. Manchmal konnten ihre blauen Augen verführerisch strahlen. Dann verstand ich Josef. Jetzt saß sie vorn links und konnte aus dem offenen Seitenfenster mit ihrer Kamera Jagd auf wilde Tiere machen. Bisweilen hielt Beate an, um ihr einen besseren Blickwinkel zu geben. Die Fotostopps, die vorbeihüpfenden Springböcke und Antilopen konnten nicht verhindern, dass meine Gedanken abschweiften, eher trug die monotone Savannenlandschaft noch dazu bei. Die Lektüre von „Morenga“ lag schon etliche Jahre zurück. So wusste ich lediglich, dass Jakob Morenga ein Freiheitskämpfer im damaligen Deutsch-Südwestafrika war, an Herero-und Nama- Aufständen führend beteiligt war und dass das Buch einen dokumentarischen Charakter hatte, also Original-Dokumente enthielt, was mich damals eher langweilte. War ich zu dem Zeitpunkt schon mit Lisa zusammen? Aber das südliche Afrika interessierte sie nicht. Mehr der Norden. Auch in Bezug auf Deutschland. Hamburg war auch mir vertraut geworden. Einige schöne Jahre lebten wir dort gemeinsam. Die Hitze im Auto nahm mit dem Sonnenstand zu, die Helligkeit erschwerte die Sicht. An der Nordsee würde eine frische Brise wehen. Sternlos und kalt ist die Nacht. Es gärt das Meer. Und über dem Meer, platt auf dem Bauch, liegt der ungestaltete Nordwind… Der graue Himmel bedeckte die Stadt wie mit hübschen Kissen, ich sehnte mich zurück, nach Hamburg, im Halbschlaf. Eine Vollbremsung riss mich in die südafrikanische Wirklichkeit zurück. Ich sah zunächst nur einen unverschämt blauen Himmel und dann eine Giraffe, die langsam die Straße querte. Und geblendet von des Himmels Blau, erschient mir das Riesentier ebenfalls in Blautönen. Gut reagiert, Beate, hörte ich neben mir Josef sagen. Gegen Nachmittag erreichen wir das Waterberg-Plateau, einen Nationalpark, der gefährdete Spezies schützen soll. Empfangen werden wir von leuchtenden Farben, den der fast zweitausend Meter hohe Waterberg im Licht der schräg stehenden Sonne auslöst. Fast senkrechte Sandsteinfelsen brillieren in rötlichen Farben. Rundherum breitet sich üppige sattgrüne Vegetation aus, weil der mächtige Felsen das Regenwasser speichert und als Quellen in das trockenen Umland abgibt. Die Farbe blutrot müssen wir uns allerdings dazu denken. Denn hier fand im August 1904 die entscheidende Schlacht der Truppen des Deutschen Reiches gegen die Herero-Krieger statt, in deren Verlauf die überlebenden Herero ins trockene, wasserlose Umland getrieben wurden. Nur Wenigen gelang die Flucht nach Botswana. Heute kommen wieder Deutsche, diesmal als Touristen wie wir. Und hier im Schatten des Waterberg-Plateaus soll auch der deutschstämmige Farmer wohnen, den ich wegen Frohwohl befragen will. Während Beate, Frieda und Josef am darauffolgenden Tag, den Berg besteigen, leihe ich mir den Landrover aus und suche die Farm, die mir im Windhoeker Museum angegeben wurde und deren Lagebeschreibung ich von der Lodge-Verwaltung bekomme. Nach einer halben Stunde des Suchens finde ich das Farmgebäude von Karl Großmann und seiner Famlie. Die Landschaft ist trocken, vereinzelt stehen Akazien herum. Von Großmann erfahre ich, dass noch sein Vater Landwirtschaft betrieb, was sich heutzutage aber nicht mehr lohne, er halte nur noch Vieh und habe eine Jagdfarm und biete auch Gästebetten an, am Wochenende kämen immer mehr zum Springbock-Schießen. Wir gehen ins Haus, und ich werde mit Kaffee und Kuchen bewirtet. Beim Eintreten fällt mir in der Diele ein etwa achtzig mal sechzig Zentimeter großes Bild auf, das geradezu ein Blickfang ist. Ziemlich minimalistisch, nur eine Pflanze im Rot-Grün- Kontrast, der weiße Übertopf, in dem sie wurzelt, in blauer Umrisszeichnung angedeutet. Im Wohnzimmer komme ich auf Otto Frowohl zu sprechen. Ja, Otto sei hier gewesen, habe ein paar Monate hier verbracht, er sei ziemlich niedergeschlagen gewesen, habe aber kaum gemalt. Zum Dank habe er den Hibiskus, den ich in der Diele ja bereits gesehen hätte, dagelassen. Etwas untypisch das Motiv für Frohwohl, wende ich ein. Das könne er nicht beurteilen, so Großmann, aber immerhin, das Bild sei signiert mit den Buchstaben F und O. Genaueres über seinen Verbleib in Südwest, wie er formulierte, wisse er nicht, außer, dass er an die Küste, nach Swakopmund gegangen sei. Die da können mehr sagen, da wohnen noch einige Deutsche. Ich verabschiede mich, darf noch ein Foto vom Hibiskus machen und starte den Rover zurück zum Waterberg. Unterwegs mache ich noch einige Landschaftsaufnahmen inklusive Waterberg, denn ich war ja auf Motivsuche für Film-Locations. grün, rot, blau weiß, sinniere ich während der Rückfahrt, sollte das eine bestimmte Bedeutung haben, eine Aussage zur Landschaft, zur kriegerischen Geschichte? Im Mondschein, nach dem Abendessen haben die Reisegefährten auch einiges zu erzählen. Frieda hat wundervolle Aufnahmen von Greifvögeln oben auf dem Plateau gemacht. Josef findet die Natur fantastisch, er sei fast abgestürzt: Mors certa, hora incerta, Beate hat schon größere Felsmassive in Amerika gesehen. Ich widerspreche nicht, um des Friedens willen. Aus den Bäumen dringt leises Rauschen, die Nacht ist sternenklar. Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus…. Bevor es weitergeht, schicke ich eine Nachricht nach Düsseldorf, an den Kurator, in der ich ihm vom Blumenbild beim Farmer Großmann berichte und von meinem bevorstehenden Besuch in Swakopmund. Ich mache aus meiner Begeisterung keinen Hehl, da ich glaube, meinem Ziel nähergekommen zu sein. Ich bin auf seine Antwort gespannt. Die Ausbeute an großen Wildtieren ist bisher mager. Antilopen und Springböcke en masse, ab und zu Giraffen, die meistens aus der Ferne ihre edlen Körperformen und zurückhaltenden Bewegungen zeigen, aber weder Elefant noch Nashorn, kein Löwe, kein Leopard und auch kein Büffel. Das soll anders werden, wenn wir erst in der Etosha- Pfanne am Westrand des Kalahari-Beckens sind. Hier liegt der größte Nationalpark Namibias. Mit Hilfe von Schutzmaßnahmen wurden die Wildbestände beträchtlich erhöht, so dass endlich genug Objekte für unsere Kameras herumlaufen. Die Jagd ist einfach. Man braucht nur an die wenigen Wasserstellen heranzufahren, und schon hat man Elefantenherden vor der Linse. Nashörner meiden anscheinend das Trinken bei Tageslicht. Sie kommen in der Dunkelheit, wenn noch die hartgesottenen Fotosafaristen auf der Pirsch sind, besser: mit genügend Abstand am Wasserloch warten. Also haben wir schon zwei der Großen Fünf. Ich greife voraus, wenn ich verrate, das wir allenfalls bis drei zählen konnten, denn wir trafen unterwegs mit dem Landrover unerwartet auf Löwen, genauer Löwinnen, ein halbes Dutzend, das am Straßenrand lagerte. Zufällig saß ich am Steuer und hatte meine Taschenkamera, beziehungsweise das Smartphone nicht griffbereit. Verzeih mir, Lisa! Wie gern hätte ich dir ein Beweisfoto gesendet. Löwen gibt’s ja auch in Nordafrika. Danach kam nichts mehr, also weder Büffel noch Leopard. Irgendwann später vermuteten wir einen Büffel im Gesträuch. Es war eine große Kuh. Als Ausgleich defilierten die unterschiedlichsten Antilopenarten vor uns vorbei. Darunter gab es prächtige Exemplare mit mächtigem Gehörn, bei dem ich fragte, ob es die Evolution nicht übertreibe, wenn die Männlichkeit so ausgestellt werde. Onus est honos. Würde ist Bürde, so Josefs lakonischer Kommentar. Aus gruppendynamischer Sicht gab es jetzt eine Männer- und eine Frauenseite, wie früher in der Kirche. Josef litt, wollte sich sein Leiden nicht anmerken lassen. Um ihn zu trösten kramte ich den lateinischen Spruch hervor, der für vieles gilt und den ich daher aus meiner Schulzeit herüber gerettet habe. Nach den Wolken kommt das Licht. Daran sollte ich mich selbst klammern, wenn ich an Hamburg dachte. Ich spürte Ungeduld. Es lag noch fast eine Reisewoche vor uns, ehe wir die Küste erreichten. Swakopmund lag noch in beträchtlicher Ferne. Ich wollte endlich das Rätsel um Frivol lösen. Obwohl all die Naturschönheiten, die Lodges, das gute Essen, der Volksstamm der Himba mit seinen braun angemalten Körpern, Twyfelfontein, die Felsmalereien, die orgelpfeifenähnlichen Basaltsäulen, der versteinerte Wald, Cape Cross, wo der Portugiese Diego Cão das Land betrat, und wo heute Seelöwen und Ohrenrobben bei großem Gebrüll und entsetzlichem Gestank sich vermehren, tummeln und sterben, obwohl all dies eine ausführliche Würdigung verdient hätte, ich übergehe es. Ich liebe die Zeitraffer im Film. Also kommen wir, von der langen Fahrt an der Küste entlang erschöpft, am Nachmittag in Swakopmund an. Der Himmel wirkt bleiern. Die Temperatur ist erträglich. Schließlich sorgt der Benguela-Strom für Kühle am Südatlantik. In Swakopmund logieren wir in Meikes Gästehaus, mitten in der Stadt, zwar nicht im Zentrum, aber in einer Stadt, zum ersten und letzten Mal. Der erste Eindruck ist verwirrend. Viele Gebäude könnten in Deutschland stehen. Dafür sorgen schon allein Deutsche Namen von Hotels und Geschäften. Die Architektur scheint willkürlich: irgendwo steht eine Art Barockkirche, dann gibt es Fachwerkhäuser und Häuser im Stil der Wilhelminischen Zeit. Gemischtfarbige Bevölkerung prägt das Straßenbild, allerdings gibt es auffallend viele Weiße. Wir finden beim frühabendlichen Bummel durch die Straßen ein Restaurant, das uns anspricht. Es ist relativ voll, wir finden noch einen Vierertisch in der Ecke. Josef sitzt neben Frieda, ich ihr gegenüber, rechts neben mir Beate. Das Essen in Namibia ist generell fleischlastig. Entsprechend fallen die Portionen aus. Wir bestellen Bier, in der Stadt gebraut. Die Spannung, die in letzter Zeit geherrscht hat, löst sich. Josef legt seinen Arm um Frieda, schließlich ist er ihr Vetter, Frieda ist gut gelaunt, sie hat alle ihre Objektive, Normal-, Weitwinkel und Tele, nutzen können, Hunderte von Bildern gemacht. Ihre Augen blitzten mich an. Beate schweigt noch, vielleicht sucht sie nach etwas, was in Südamerika Größeres auf einem Teller war als jetzt hier. Sie hat nachgerechnet, sie hat mehr lateinamerikanische Länder besucht als ich. Wir fühlen uns wohl und satt, das Bier ist gut. Wir bestellen nach. Beate ist näher herangerückt. Im Gespräch werden Erinnerungen der letzten Tage aufgefrischt. Ich spüre Friedas Knie an meinen. Tempus fugit, amor manet, flüstert mit Josef über den Tisch zu. Für den nächsten Tag ist ein Ausflug in die Dünenlandschaft der Küstenwüste geplant. Ich schütze Kopfschmerzen und Müdigkeit vor. Du wirst es bereuen, höre ich die anderen beim Abschied sagen. Kurz danach breche ich auf, ins Stadtzentrum Ich weiß nicht genau, wo ich mit meiner Suche anfangen soll, suche typische deutsche Erscheinungsbilder. Nachdem ich die alte restaurierte Seebrücke, den ehemaligen Leuchtturm, der als Museum dient, besichtigt habe, finde ich nach einigem Suchen das Café, das man mir auf meine Nachfrage hin als echt deutsch bezeichnet hat. Ich bestelle, natürlich, Kaffee und Kuchen. Das Café ist voller Bilder, eine Art Sonderausstellung? Die Stile sind völlig verschieden. Ich erkenne keine durchgehende Linie. Es dominieren rostbraune bis grellrote Farben. Ein Bild passt nicht dazu. Es ist grün, blau, weiß changierend, bei gehörigem Abstand entsteht der Eindruck eines Wasserfalls. Ich bin wie elektrisiert. Frivol! Springe auf, eile zum Bild und sehe unten rechts die bekannte Signatur Das F im O oder umgekehrt. Also doch. Von der Bedienung versuche ich Genaueres zu erfahren. Sie weiß aber nichts, außer dass das Bild schon so lange hängt, wie sie hier arbeitet, und das sind fast zehn Jahre. Einen Moment, ich frage meine Mutter. Eine mittelalte schwerfällig wirkende Frau schlurft aus der Küche auf mich zu. In noch verständlichem Deutsch- mein Englisch hat mich wohl entlarvt – erzählt sie mir von einem Otto, der aber längst wieder nach Deutschland zurück sei und mal seine Ferien hier verbracht hat. Mehr bekomme ich nicht aus ihr heraus. Mit dem Foto des Bildes auf meinem Phone eile ich in die Pension, um es dem Kurator zu schicken. Hier in der Zivilisation gibt es wieder Verbindung zum Internet. Kurz darauf meldet sich schon der Kurator bei mir. Tolle Sache. Ihr Forschergeist trägt Früchte. Wir planen eine neue Frivol- Ausstellung. Schreiben Sie mir einen packenden, anschaulichen Bericht über ihre „Ausgrabungen“ dort unten! Sie sind ein Teufelskerl. Ciao! Zurück von der kleinen Desert Tour, überschütten mich die drei mit begeisterten Berichten. Im 4×4 gings die Dünen hoch, und ein enthusiastischer Führer zeigte ihnen die versteckten Lebewesen der Wüste, den Gecko, den schwarzen Skorpion, Schlangen, insgesamt wohl fünf Tiere, die er ironisch die Big Five der Sanddünen nannte. Ich selbst fühlte mich ob des Lobs durch den Kurator in den Wolken. Aber auf uns wartete noch mehr Wüste, eine Wüste die weiter im Südosten liegt, bevor wir dann nordöstlich nach Windhoek zurückkehrten. 350 Kilometer hatten bis dahin über diverse Gebirgspässe zurückzulegen, bis wir die Lodge Desert Camp erreichten. Hier übernachteten wir nun endgültig in der Wüste, allerdings in komfortablen Behausungen. Das letzte Ziel war Sossusvlei, eine Salz-Ton-Pfanne, die ganz selten Wasser führt und von rot gefärbten hohen Dünen umgeben ist, der eigentlichen Attraktion. Wir sitzen auf den Dünenkämmen und überschauen die Landschaft. Ja, hervorragende locations für Filmaufnahmen. Es fehlte noch das Drehbuch. Dabei entwickelt sich ein Film in meinem Kopf, der mit Fragen beginnt. Warum habe ich den Maler Frivol-Frohwohl nicht treffen können? Wieso konnte ich seine Farm nicht ausfindig machen, von der mir der Kurator doch geschrieben hatte. Und was hatte es mit den beiden Bildern auf sich, deren Motive so gar nicht zu Namibia passten, der Hibiskus und der Wasserfall? Wie sollte mein Bericht aussehen, wenn ich die Person, um deretwillen ich in dieses unwirtliche Land gereist bin, nicht treffen und befragen konnte? Trotz der Lobeshymnen war ich überhaupt nicht mit mir zufrieden. Den vorletzten Abend verbrachten wir gemeinsam in der Wüste, auf hohem touristischen Niveau, in einem exzellenten Restaurant, das mit diversen Antilopensteaks, Fisch (!), Salat-und Nachtischbüffet aufwartete. Da die Kletterei uns viel Schweiß abgefordert hatte, mussten wir unseren Wasserhaushalt mit viel Bier ausgleichen. Den ganzen Tag hatte ich Josef mit Frieda zusammen gehen. Nun saßen sie auch wieder nebeneinander. Frieda versprach mir eine Kopie ihrer Bilder, da mir ja die Löwen und vieles mehr fehlten. Dabei lächelte sie mich lange an. Beate plante schon ihre nächste Reise nach Botswana zu einer Freundin, sie wollte noch einige Zeit in Afrika bleiben. Von Anfang an war es mein Plan gewesen, im Anschluss eine Woche in Kapstadt zu verbringen. Da hatte ich Zeit, die gewünschten Berichte zu schreiben und Antworten auf die vier Fragen zu finden. Am Flughafen von Windhoek verabschiedeten wir uns am übernächsten Tag. Josef und Frieda flogen nach Deutschland zurück, Beate besorgte sich einen Weiterflug nach Botswana, ich bestieg das Air-Namibia-Flugzeug nach Kapstadt. Ich bin zurück in Düsseldorf. Die Erlebnisse in Kapstadt stehen auf einem anderen Blatt. Bereits von Südafrika aus schickte ich dem Kurator meine Version der Frivol-Geschichte, also das, was ich herausbekommen hatte und das, woran ich Zweifel hegte. Nach einem kurzen Telefonat treffen wir uns in einem Café am Rheinufer. Die Luft ist noch kalt. Es ist Mitte März. Schon beginnt es zu dämmern. Der Kurator, ist ein kleiner untersetzter Mann mittleren Alters, mit einem braunen Haarkranz, das Gesicht glattrasiert. Die runde Hornbrille gibt ihm einen intellektuellen Touch. Die Kleidung ist erlesen, grauer Doppelreiher, Krawatte, Socken, Gürtel, Schuhe sind auf einander abgestimmt. Er redet schnell, mit sonorer Stimme, die einen in seinen Bann zieht. Gleich zu Anfang weise ich ihn auf die Ungereimtheiten hin, frage, ob er denn wisse, wo Otto Frivol stecke. Es gibt keinen Frivol, ebenso wenig einen Frohwohl. Ich will aufbrausen. Er beschwichtigt. Lassen Sie es sich erklären! Unser Museum hat derzeit Probleme mit den Besucherzahlen. Verglichen mit den anderen Museen der Stadt und des Landes schneiden wir schlecht ab. Als Kurator werde ich dafür zur Verantwortung gezogen, auch wenn mich die Schuld nicht trifft. Wir brauchen einen Hype, ein Event, das die Leute wieder neugierig auf Kunst macht, ins Museum bringt. Ich habe Ihre Berichte schon überarbeitet. Bleiben Sie sitzen! Diese Berichte sind wertvoll für die Publicity. Es geht um die Wiederfindung eines Malers, sagen wir, eines Malergenies. Die Geschichte muss stimmen, die Biografie, der Leidensweg. Was hat das mit mir zu tun?, wende ich ein. Sie waren eine wichtige Figur im Spiel. Wohl eher der nützliche Idiot! Allmählich dämmert mir etwas. Der Kurator räuspert sich. Etwas leiser fährt er fort: Es gibt überhaupt keinen Frohwol und so weiter, aber es gibt einen Friedhelm Otto. Otto ist ein begnadeter Hobby-Maler, eigentlich Studienrat, sehr produktiv, habe seine Bilder zufällig bei Bekannten gesehen. Einen Hobby- Maler kann man nicht im Landesmuseum oder generell auf diesem Niveau ausstellen. Das geht gar nicht. Da fehlt die Aura, der künstlerische Werdegang, die Akademie, der berühmte Lehrer, auch wenn die Bilder überragend sind. Hören Sie mir weiter zu! Noch über den Hobby-Malen stehen die Schauspieler oder Musiker, die malen. Sagen wir Armin-Müller-Stahl (klangvoller Name!) oder Paul Mc Cartney. Die können ausstellerisch scheitern, aber, na ja.. Der Kurator hüstelt. Ich drücke mich in meinen Sessel, halte die Armlehnen umklammert. Wir brauchen eine Legende. Für Otto. Mit einem echten Pseudonym. Das kennen Sie ja hinlänglich. Sie haben daran mit gebastelt, die Frohwohlt-Sache, der Maler in der Fremde, meine ich. Und dann etwas Exotisches. Warum nicht Südafrika, lächelte der Kurator. Ein Land mit einer derartigen Vergangenheit. Das interessiert die Leute, das irgendwie Politische daran. Die alten Südwestler schwingen da mit. Sie haben also mich für diese Legendenbildung missbraucht, brause ich jetzt laut auf! Nicht doch, Sie haben gute Arbeit geleistet. Sie waren unser Gewährsmann da unten im Süden. Das heißt, fahre ich etwas ruhiger fort, Sie haben das alles arrangiert, die Fährte gelegt, mich dahin gelockt?! Ja, eine gute Idee, was. Ich habe einen Köder ausgelegt, das Bild mit der blauen Giraffe. Zunächst wollte ich nur wissen, ob Ottos Bild noch auf Interesse stieß. Dann kamen Sie und wollten Genaueres wissen. Eigentlich haben Sie den Stein ins Rollen gebracht. Die Ideen entwickelten sich dann von selbst. Die Katalog-Kopie war natürlich manipuliert. Ein Fake. Daher nur die Kopie. Es gab also nie eine Frivol-Ausstellung vorher? Sie sagen es. Und die Bilder in Namibia, der Hibiskus, der Wasserfall? Ich habe über einen Mittelsmann die Bilder überbringen lassen und Großmann und die Café-Besitzerin entsprechend der Legendenbildung instruiert. Großmann hat Schulden, das deutsche Café läuft nicht gut. Aber sie taten es auch für die Kunst. Der Kurator lacht. Ich werde Sie auffliegen lassen, sage ich bestimmt. Ach was. Was können Sie denn beweisen? Otto hat übrigens neue Bilder gemalt. Jetzt mehr im Großformat. Das kommt sowieso besser. Mit der Geschichte wird er ganz groß rauskommen. Und die Signatur stimmt ja: O und F, das O im F oder umgekehrt. Ich glaube, der Otto hatte mal einen Onkel in Südafrika. Der soll Missionar gewesen sein. Das könnte noch was werden. Ich bin tatsächlich in eine Falle gelaufen, denke ich. Die sonore Stimme spricht wieder. Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, abgesehen davon, dass Sie als Autor in der Begleitbroschüre auftauchen, gegen Honorar, versteht sich. Sie haben einen Wunsch frei. Wie kan ich ihn am meisten treffen?, überlege ich. Ich möchte die Blaue Giraffe, fordere ich mit fester Stimme. Der Kurator überlegt kurz: Einverstanden. Sie bekommen sie. Für den Verlust des Bildes lassen wir uns eine Geschichte einfallen. Aber dazu gehört noch eine Anekdote, und die ist nicht frei erfunden.

Friedhelm Otto hat eine kleine Tochter aus dritter Ehe, Anna. Die kommt eines Tages zu ihm, um ein Spiel mit ihm zu treiben, das hat sie aus der Schule mitgebracht. Er solle seine Lieblingsfarbe nennen. Blau. Dann seine Lieblingszahl. Sieben. Dann sein Lieblingstier. Irgendwie fällt Otto nur ein: Giraffe. Daraufhin seine Tochter: Hast du schon einmal eine blaue Giraffe mit sieben Beinen gesehen? Otto stutzt, zögert etwas, sagt, ja klar, die zeige ich dir. Warte bis morgen. In der Nacht malt Otto die Blaue Giraffe, wie wir sie kennen. Sie kommen doch zur Ausstellungseröffnung zu Beginn des nächsten Monats? Ich rechne fest mit Ihnen. Die Sonne ist jetzt im Rhein versunken.

Die Blaue Giraffe hängt über meinem Schreibtisch. Wir können uns gegenseitig in die Augen sehen. Ich spüre Sehnsucht nach dem Süden Afrikas. Frieda will mir ihre Bilder zeigen. Der Norden lässt mich kalt.

Die Weiße Dame

von Johannes Lengert, März 2018

Unter mir lag die Altstadt mit ihren farbigen Häusern, und im Hintergrund zeichnete sich die Tejo-Mündung mit der leicht im Nebel liegenden großen Hängebrücke ab. Ich stand an der Brüstung eines Rundweges auf dem Castelo São Jorge, der über der Stadt thront. Ich war so weit hoch gestiegen, um mir Klarheit zu verschaffen. Einen geistigen Überblick konnte ich nur gewinnen, wenn ich mich auch physisch, im geografischen Sinne, auf der Höhe befand. Täler deprimieren mich. Deshalb der Aufstieg zum Schloss oder besser zur Burg, die hoch über der Hauptstadt liegt.

Erst gestern war ich noch in Porto gewesen – ein Katzensprung von Braga aus. Nach meinem Streit mit Olívia gestern Abend hatte ich am Vormittag den Bus nach Lissabon bestiegen. Ich weiß nicht mehr genau, was mich in Rage gebracht hat. Unser Streit verlief jedenfalls so, dass ich wutentbrannt vom Tisch aufstand und das Restaurant verließ, ohne den Oboen-Koffer mitzunehmen, den ich hinter meinen Stuhl gestellt hatte.

Es war Samstagabend, und die kleinen Restaurants am Douro-Ufer waren scheinbar alle besetzt. Im Außenbereich war kein freier Platz zu erblicken. Wir schritten am Ufer entlang, dessen niedrige Kaimauer dicht mit kleinen Tischchen bestückt war. Selbst an der Hausfront drückten sich noch Tischchen an die Wand, so dass der Eindruck entstand, man schlängelte sich durch ein nie endendes einziges Restaurant. Die Düfte waren verlockend. Jetzt waren wir bereit, im Innern eines Restaurants Platz zu nehmen, selbst wenn es drinnen sehr warm sein sollte. Wir traten in das Nächstbeste. Zufällig gebe es im hinteren Raum einen freien Tisch, wenn wir mit einer Fado-Präsentation einverstanden seien, informierte uns der Kellner. Warum hätten wir eine musikalische Begleitung ablehnen sollen? Also nahmen wir den Tisch.

Das Essen war akzeptabel. Wir aßen beide Fisch und tranken einen regionalen Weißwein. Schon vor dem Auftragen des Hauptganges setzte die Musik ein. Zu unserer Überraschung gesellte sich die Dame, die wir für die Chefin hielten und die uns am Tisch begrüßt hatte, zu den beiden Gitarristen und sang mehrere Fados. Sie muss eine sehr schöne Frau gewesen sein. Jetzt war sie eine attraktive Matrone, die die oberen Töne nicht immer traf. Wir waren in guter Stimmung. Der Gesang der Chefin trug noch dazu bei. Nachdem uns der Wein die Zunge ein wenig gelöst hatte, fanden wir in die gewohnte Vertraulichkeit zurück. Es schien klar, dass wir die Nacht gemeinsam verbringen würden, so wie wir es immer taten, wenn wir uns nach längerer Zeit wieder trafen.

Olivia und ich hatten uns vor einigen Jahren in Luanda kennen gelernt. Luanda ist eine der teuersten Städte der Welt. Ich konnte mir das teure Hotel nur leisten, weil es Teil meiner Spesen war. Die süddeutsche Firma, bei der ich beschäftigt war, hatte im portugiesischen Braga eine neue Technonolgie-Sparte errichtet und verhandelte jetzt auch mit angolesischen Investoren.

Es war nicht abends in der Bar, sondern morgens beim Frühstück, als wir uns über den Weg und direkt in die Arme liefen. Aus diesem Beinahe-Zusammenstoß wurde eine Freundschaft und zeitweise eine Leidenschaft. Damals trug Olívia die weißblond gefärbten Haare sehr kurz geschnitten. Dies verstärkte den Kontrast zu ihrer olivfarbenen Haut. Sie war zierlich. Ihre selbstbewusste Körperhaltung und ihr bestimmender Blick ließen den Eindruck von Fragilität nicht aufkommen. Ihre Mutter war Angolanerin, ihr Vater portugiesischer Offizier mittleren Dienstgrades, der in der Nelkenrevolution eine Rolle spielen sollte. Die Mutter war aktives Mitglied des Movimento Popular de Liberação de Angola (MLPA), der später zur Staatspartei mutierte und einigen Aktiven außergewöhnlichen Reichtum bescherte. So auch Olívias Familie.

Olívia war Violonistin. Als weltweit gefragte Künstlerin war sie häufig in Europa anzutreffen. Ihr Markenzeichen war ein roter Geigenkasten, den sie fast immer mit sich trug und nie aus den Augen verlor. Bei unserem ersten Zusammentreffen bemühte ich mich, portugiesisch zu reden. Es stellte sich heraus, dass ihr Deutsch besser war als meine Versuche in ihrer Muttersprache. Schließlich habe sie zwei Jahre bei dem berühmten Geigenlehrer Hilmar Slatko in Stuttgart gelernt.

Inzwischen trug Olívia ihre weißblonden Haare glatt als kurze Bob-Frisur. Am Abend in Porto betonte ein ärmelloses schwarzes Etui-Kleid ihre Figur. Für die kommende Nachtkühle hatte sie ein graues Spitzencape über die Stuhllehne drapiert. Was uns verband, war das Interesse an Musik und bildender Kunst, sowohl an moderner Weltkunst als auch an afrikanischer Kunst. Angola war ein riesiges Land, das neben unermesslichen Ölvorkommen auch immense Kunstschätze barg. Olívias Familie unterhielt gute Beziehungen zu aufstrebenden Musikern und unterstützte sie. Das machte sie mir sympathisch.

Ich hatte mich bereit erklärt, eine kostbare Oboe einem befreundeten Musiker in Lissabon zu überbringen. Auch dies war ein Grund für unser Treffen in Porto. Olívia hatte sie nebst ihrem Geigenkasten dabei, als wir auf der Suche nach einem Restaurant waren. Während der Fado-Darbietungen befanden sich beide Instrumentenkoffer zu unseren Füßen. Inzwischen war die Chefin als Fado-Sängerin abgetreten. Ein junger vollbärtiger junger Mann hatte ihre Stelle eingenommen. Er war ein guter Ersatz. Denn er traf jeden Ton mit seinem Bariton. Trotzdem verlief der Abend kurz vor der Nachspeise nicht mehr harmonisch. Die Nacht verbrachte ich allein.

Zu meiner Überraschung wurde mir am anderen Morgen an der Hotelrezeption in Porto, direkt nach Bezahlung der Rechnung, der Oboen-Kasten überreicht. Ich dankte freundlich, aber verwirrt. Man hielt mich für einen zerstreuten Musiker. Jetzt nach der vierstündigen Busreise nach Lissabon verspürte ich Hunger. Aber ein Anruf im neuen Hotelzimmer legte mir nahe, in kürzester Zeit die Kathedrale aufzusuchen, um den Oboisten Enrique Santos zu treffen. Mehr wusste ich nicht. Trotzdem machte ich mich auf den Weg.

Als Erkennungszeichen trug ich den Oboen-Kasten unter dem Arm. Er war leicht. Am Eingang der Kathedrale stand ein kleiner grauhaariger Mann, der den Eindruck eines Künstlers vermittelte. Er kam mir auf den Stufen entgegen. Nach einer flüchtigen Begrüßung öffnete er den Kasten. Zur erneuten Überraschung lag in dem kardinalrot ausgeschlagenen Kasten eine elfenbeinweiße Figur. Beim Herausnehmen stellte sie sich als Holzfigur heraus, die etwa 50 Zentimeter maß und den Körper einer länglich verzerrten Frau darstellte. Die Arbeit war gewollt grob. Es stellten sich Assoziationen mit früh expressionistischer und afrikanischer Kunst ein. Die Farbe war ungewöhnlich. Man hätte schwarz oder einen dunklen Holzton erwartet. Der kleine Grauhaarige stieß einen Zornesschrei aus und warf mir den Kasten samt Inhalt vor die Füße. Ich war kaum weniger überrascht als er.

Seit ich Olívia da Costa kannte, hatte ich des Öfteren Musikinstrumente an befreundete Musiker übergeben. Natürlich hatte ich nie den Inhalt der Koffer überprüft.

Von der Kathedrale zur Burg war es nicht weit. Ich brauchte Klarheit. Auch darüber, was sich im Douro-Tal ereignet hatte: Olívia hatte immer den roten Geigenkoffer bei sich. Wir sprachen intensiv über Kunst und Musik. Aber ich hatte Olívia niemals spielen sehen. Olivia war andauernd unterwegs. Vielen Musikern mussten ihre Instrumente nachgetragen werden.

Mit der Holzfigur im Koffer begab ich mich ins Hotel zurück. In meinem Zimmer erwartete mich ein dicklicher Mann. Aus seinem vernuschelten Portugiesisch sollte ich entnehmen, dass er Polizist oder Privatdetektiv war. Man sei Elfenbeinräubern und Kunstdieben auf der Spur. Gesucht werde eine Schachfigur aus Elfenbein, die weiße Dame des Spiels. Sie sei in meinen Händen. Das Elfenbein komme aus Namibia nach Angola. Dortige Künstler schnitzten die Schachfiguren nach den Vorstellungen eines reichen Auftraggebers. Fast riss der Dicke mir den Kasten aus den Händen. Mir blieb keine Zeit, ihn vorzuwarnen. Das Ergebnis kann man sich vorstellen. Fluchend verschwand der angebliche Polizist oder Detektiv wie sein Vorgänger, der vermeintliche Künstler. Auch er ließ die Kopie zurück.

Um dem Spiel mit dem Kasten ein Ende zu setzen, stellte ich die Holzfigur auf die Anrichte. Die Dame blickte streng und rätselhaft an mir vorbei. Ich setzte mich ihr gegenüber und bedachte meine Rolle im Kunst und- Elfenbeinhandel. Subjektiv habe ich einen Freundschaftsdienst geleistet. Objektiv war ich ein Krimineller, aus der Sicht eines Schachspielers nur eine Figur. Ich vermute, der Läufer. Wer war diese Olívia, oder wie auch immer sie heißt? Die Schachspielerin, ein Offizier oder doch nur ein Bauernopfer?

Meine Nachforschungen über Olívia blieben ergebnislos. Im Büro in Braga steht die weiße Dame auf dem Schreibtisch. Sie nimmt wenig Platz ein. Doch sie gibt mir immer wieder zu denken. Ich war nie ein guter Schachspieler.

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