von Johannes Lengert, März 2018
Unter mir lag die Altstadt mit ihren farbigen Häusern, und im Hintergrund zeichnete sich die Tejo-Mündung mit der leicht im Nebel liegenden großen Hängebrücke ab. Ich stand an der Brüstung eines Rundweges auf dem Castelo São Jorge, der über der Stadt thront. Ich war so weit hoch gestiegen, um mir Klarheit zu verschaffen. Einen geistigen Überblick konnte ich nur gewinnen, wenn ich mich auch physisch, im geografischen Sinne, auf der Höhe befand. Täler deprimieren mich. Deshalb der Aufstieg zum Schloss oder besser zur Burg, die hoch über der Hauptstadt liegt.
Erst gestern war ich noch in Porto gewesen – ein Katzensprung von Braga aus. Nach meinem Streit mit Olívia gestern Abend hatte ich am Vormittag den Bus nach Lissabon bestiegen. Ich weiß nicht mehr genau, was mich in Rage gebracht hat. Unser Streit verlief jedenfalls so, dass ich wutentbrannt vom Tisch aufstand und das Restaurant verließ, ohne den Oboen-Koffer mitzunehmen, den ich hinter meinen Stuhl gestellt hatte.
Es war Samstagabend, und die kleinen Restaurants am Douro-Ufer waren scheinbar alle besetzt. Im Außenbereich war kein freier Platz zu erblicken. Wir schritten am Ufer entlang, dessen niedrige Kaimauer dicht mit kleinen Tischchen bestückt war. Selbst an der Hausfront drückten sich noch Tischchen an die Wand, so dass der Eindruck entstand, man schlängelte sich durch ein nie endendes einziges Restaurant. Die Düfte waren verlockend. Jetzt waren wir bereit, im Innern eines Restaurants Platz zu nehmen, selbst wenn es drinnen sehr warm sein sollte. Wir traten in das Nächstbeste. Zufällig gebe es im hinteren Raum einen freien Tisch, wenn wir mit einer Fado-Präsentation einverstanden seien, informierte uns der Kellner. Warum hätten wir eine musikalische Begleitung ablehnen sollen? Also nahmen wir den Tisch.
Das Essen war akzeptabel. Wir aßen beide Fisch und tranken einen regionalen Weißwein. Schon vor dem Auftragen des Hauptganges setzte die Musik ein. Zu unserer Überraschung gesellte sich die Dame, die wir für die Chefin hielten und die uns am Tisch begrüßt hatte, zu den beiden Gitarristen und sang mehrere Fados. Sie muss eine sehr schöne Frau gewesen sein. Jetzt war sie eine attraktive Matrone, die die oberen Töne nicht immer traf. Wir waren in guter Stimmung. Der Gesang der Chefin trug noch dazu bei. Nachdem uns der Wein die Zunge ein wenig gelöst hatte, fanden wir in die gewohnte Vertraulichkeit zurück. Es schien klar, dass wir die Nacht gemeinsam verbringen würden, so wie wir es immer taten, wenn wir uns nach längerer Zeit wieder trafen.
Olivia und ich hatten uns vor einigen Jahren in Luanda kennen gelernt. Luanda ist eine der teuersten Städte der Welt. Ich konnte mir das teure Hotel nur leisten, weil es Teil meiner Spesen war. Die süddeutsche Firma, bei der ich beschäftigt war, hatte im portugiesischen Braga eine neue Technonolgie-Sparte errichtet und verhandelte jetzt auch mit angolesischen Investoren.
Es war nicht abends in der Bar, sondern morgens beim Frühstück, als wir uns über den Weg und direkt in die Arme liefen. Aus diesem Beinahe-Zusammenstoß wurde eine Freundschaft und zeitweise eine Leidenschaft. Damals trug Olívia die weißblond gefärbten Haare sehr kurz geschnitten. Dies verstärkte den Kontrast zu ihrer olivfarbenen Haut. Sie war zierlich. Ihre selbstbewusste Körperhaltung und ihr bestimmender Blick ließen den Eindruck von Fragilität nicht aufkommen. Ihre Mutter war Angolanerin, ihr Vater portugiesischer Offizier mittleren Dienstgrades, der in der Nelkenrevolution eine Rolle spielen sollte. Die Mutter war aktives Mitglied des Movimento Popular de Liberação de Angola (MLPA), der später zur Staatspartei mutierte und einigen Aktiven außergewöhnlichen Reichtum bescherte. So auch Olívias Familie.
Olívia war Violonistin. Als weltweit gefragte Künstlerin war sie häufig in Europa anzutreffen. Ihr Markenzeichen war ein roter Geigenkasten, den sie fast immer mit sich trug und nie aus den Augen verlor. Bei unserem ersten Zusammentreffen bemühte ich mich, portugiesisch zu reden. Es stellte sich heraus, dass ihr Deutsch besser war als meine Versuche in ihrer Muttersprache. Schließlich habe sie zwei Jahre bei dem berühmten Geigenlehrer Hilmar Slatko in Stuttgart gelernt.
Inzwischen trug Olívia ihre weißblonden Haare glatt als kurze Bob-Frisur. Am Abend in Porto betonte ein ärmelloses schwarzes Etui-Kleid ihre Figur. Für die kommende Nachtkühle hatte sie ein graues Spitzencape über die Stuhllehne drapiert. Was uns verband, war das Interesse an Musik und bildender Kunst, sowohl an moderner Weltkunst als auch an afrikanischer Kunst. Angola war ein riesiges Land, das neben unermesslichen Ölvorkommen auch immense Kunstschätze barg. Olívias Familie unterhielt gute Beziehungen zu aufstrebenden Musikern und unterstützte sie. Das machte sie mir sympathisch.
Ich hatte mich bereit erklärt, eine kostbare Oboe einem befreundeten Musiker in Lissabon zu überbringen. Auch dies war ein Grund für unser Treffen in Porto. Olívia hatte sie nebst ihrem Geigenkasten dabei, als wir auf der Suche nach einem Restaurant waren. Während der Fado-Darbietungen befanden sich beide Instrumentenkoffer zu unseren Füßen. Inzwischen war die Chefin als Fado-Sängerin abgetreten. Ein junger vollbärtiger junger Mann hatte ihre Stelle eingenommen. Er war ein guter Ersatz. Denn er traf jeden Ton mit seinem Bariton. Trotzdem verlief der Abend kurz vor der Nachspeise nicht mehr harmonisch. Die Nacht verbrachte ich allein.
Zu meiner Überraschung wurde mir am anderen Morgen an der Hotelrezeption in Porto, direkt nach Bezahlung der Rechnung, der Oboen-Kasten überreicht. Ich dankte freundlich, aber verwirrt. Man hielt mich für einen zerstreuten Musiker. Jetzt nach der vierstündigen Busreise nach Lissabon verspürte ich Hunger. Aber ein Anruf im neuen Hotelzimmer legte mir nahe, in kürzester Zeit die Kathedrale aufzusuchen, um den Oboisten Enrique Santos zu treffen. Mehr wusste ich nicht. Trotzdem machte ich mich auf den Weg.
Als Erkennungszeichen trug ich den Oboen-Kasten unter dem Arm. Er war leicht. Am Eingang der Kathedrale stand ein kleiner grauhaariger Mann, der den Eindruck eines Künstlers vermittelte. Er kam mir auf den Stufen entgegen. Nach einer flüchtigen Begrüßung öffnete er den Kasten. Zur erneuten Überraschung lag in dem kardinalrot ausgeschlagenen Kasten eine elfenbeinweiße Figur. Beim Herausnehmen stellte sie sich als Holzfigur heraus, die etwa 50 Zentimeter maß und den Körper einer länglich verzerrten Frau darstellte. Die Arbeit war gewollt grob. Es stellten sich Assoziationen mit früh expressionistischer und afrikanischer Kunst ein. Die Farbe war ungewöhnlich. Man hätte schwarz oder einen dunklen Holzton erwartet. Der kleine Grauhaarige stieß einen Zornesschrei aus und warf mir den Kasten samt Inhalt vor die Füße. Ich war kaum weniger überrascht als er.
Seit ich Olívia da Costa kannte, hatte ich des Öfteren Musikinstrumente an befreundete Musiker übergeben. Natürlich hatte ich nie den Inhalt der Koffer überprüft.
Von der Kathedrale zur Burg war es nicht weit. Ich brauchte Klarheit. Auch darüber, was sich im Douro-Tal ereignet hatte: Olívia hatte immer den roten Geigenkoffer bei sich. Wir sprachen intensiv über Kunst und Musik. Aber ich hatte Olívia niemals spielen sehen. Olivia war andauernd unterwegs. Vielen Musikern mussten ihre Instrumente nachgetragen werden.
Mit der Holzfigur im Koffer begab ich mich ins Hotel zurück. In meinem Zimmer erwartete mich ein dicklicher Mann. Aus seinem vernuschelten Portugiesisch sollte ich entnehmen, dass er Polizist oder Privatdetektiv war. Man sei Elfenbeinräubern und Kunstdieben auf der Spur. Gesucht werde eine Schachfigur aus Elfenbein, die weiße Dame des Spiels. Sie sei in meinen Händen. Das Elfenbein komme aus Namibia nach Angola. Dortige Künstler schnitzten die Schachfiguren nach den Vorstellungen eines reichen Auftraggebers. Fast riss der Dicke mir den Kasten aus den Händen. Mir blieb keine Zeit, ihn vorzuwarnen. Das Ergebnis kann man sich vorstellen. Fluchend verschwand der angebliche Polizist oder Detektiv wie sein Vorgänger, der vermeintliche Künstler. Auch er ließ die Kopie zurück.
Um dem Spiel mit dem Kasten ein Ende zu setzen, stellte ich die Holzfigur auf die Anrichte. Die Dame blickte streng und rätselhaft an mir vorbei. Ich setzte mich ihr gegenüber und bedachte meine Rolle im Kunst und- Elfenbeinhandel. Subjektiv habe ich einen Freundschaftsdienst geleistet. Objektiv war ich ein Krimineller, aus der Sicht eines Schachspielers nur eine Figur. Ich vermute, der Läufer. Wer war diese Olívia, oder wie auch immer sie heißt? Die Schachspielerin, ein Offizier oder doch nur ein Bauernopfer?
Meine Nachforschungen über Olívia blieben ergebnislos. Im Büro in Braga steht die weiße Dame auf dem Schreibtisch. Sie nimmt wenig Platz ein. Doch sie gibt mir immer wieder zu denken. Ich war nie ein guter Schachspieler.