von Johannes Lengert, November 2015
Als Alice Emma Marie Kraft verhaftet wurde, hatte sie gerade ihren fünfunddreißigsten Geburtstag gefeiert. Die Verhaftung kam für Außenstehende und selbst für Freunde überraschend. Sie war als Tochter eines Schokoladenfabrikanten in Hamburg an der Binnenalster aufgewachsen. Über ihre Kindheit und Jugend lässt sich nichts Weiteres sagen. Allein seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr sind Proteste gegenüber der elterlichen Autorität bekannt, die darin gipfelten, dass sie den schokoladenbraunen Mercedes ihres Vaters, eine Sonderanfertigung, die dieser mit Stolz fuhr, mit roter Farbe besprühte. Alice war das einzige Kind. Die Mutter war seit Alices Geburt häufig krank und war nach zwei Schlaganfällen zwar nicht pflegebedürftig, so doch immer auf Hilfe angewiesen. Nach dem Abitur verzichtete Alice auf die finanzielle Unterstützung von Seiten ihres Vaters, ohne sich ausdrücklich vom Elternhaus loszusagen, und verdiente sich ihr Studium hauptsächlich als Verkäuferin in Geschäften der gehobenen Herrenausstattung. Sie selbst war elegant und geschmackvoll gekleidet. Sie bevorzugte die Farbe Rot, die gut zu ihrem Haar passte.
Ich lernte Alice kennen, als ich während einer Ausbildungsphase für den Diplomatischen Dienst in Madrid war. Wir befanden uns im selben Kurs, in dem es um die politischen Besonderheiten der südlichen lateinamerikanischen Länder ging, insbesondere die des Mercosur. Wir freundeten uns an, da wir uns beide etwas als Außenseiter in dieser Ausbildung sahen, und bald darauf waren wir ein Paar, allerdings nicht unter den Augen der Öffentlichkeit, da dies nicht dem Ausbildungsreglement entsprach. Ich erfuhr, dass Alice darauf Wert legte, von guten Freunden Emma – nach einer ihrer Großmütter – genannt zu werden und dass ihr erster Vorname nur dem Französischtick ihrer Mutter geschuldet sei. Dass mit Marie wisse sie aber auch nicht zu erklären, vielleicht habe es da irgendeine Tante gegeben. Meine Erklärung, dass damit schon ihre zukünftige Tätigkeit als Diplomatin im hispanoamerikanischen Raum, wo alle Frauen auch María hießen, angedeutet worden sei, gefiel ihr.
Emma trug nicht nur drei Vornamen, sondern hatte auch einen zweiten Nachnamen, den sie verschwieg, einmal weil die damit verbundene Verehelichung nicht allgemein bekannt werden sollte und zum zweiten weil die Namenskombination sie lächerlich machen konnte. Ihr Mann hieß offiziell Thomas Bouillon und hatte sich den Künstlernamen Toni Garn zugelegt. Es liegt nahe anzunehmen, dass er in der Modebranche tätig war. Das wäre nicht verwunderlich, da Emma ja in der Herrenkonfektion gearbeitet hatte und die beiden sich dort hätten kennen lernen können. In der Tat war Thomas/Toni Musiker. Er spielte als Bassgitarrist in verschiedenen Bands und ab und zu als Studiomusiker und verfügte daher über kein regelmäßiges Einkommen. Ihre Ehe sei, so erzählte Emma mir, nicht das Resultat einer oder zweier Leidenschaften, sondern der Vernunft. Da sie schon seit längerem befreundet seien, hätten sie geheiratet, um Thomas aus der finanziellen Klemme zu helfen, und von ihrem gemeinsamen Konto könne sich ihr Mann monatlich eine bestimmte Summe abheben. Als ich Emma kennenlernte, lief dieses Wirtschaftsmodell noch wie geplant, man schreib noch keine roten Zahlen. Ich hätte also keinen Grund zur Eifersucht.
Vor dem „Deal“ mit Tom/Toni, wie Emma es formulierte, hatte es eine längere Beziehung zu Hajo gegeben, einem Zahnarzt. Hajo war Liebhaber schneller Autos, und demzufolge war auch deren Verschleiß groß. Sein Lieblingsmodell war ein roter Volvo-Sportwagen, ich nehme an, eine Art Oldtimer, der überlebte, weil er vorsichtiger gefahren, aber auch häufig von einer Markenwerkstatt gepflegt wurde. Dies verursachte beträchtliche Kosten, für die zum großen Teil Emma aufkam. Weitere Kosten entstanden durch die Modernisierung der Zahnarztpraxis. Auch daran beteiligte sich Emma in hohem Maße. Vermutlich betrachtete sie diese finanzielle Unterstützung als Investition in ihre Zukunft, da die Heirat mit Hajo gemeinsam geplant war. Eines Tages musste, so hieß es, der Zahnarzt zu einem Zahnärztekongress nach Kapstadt. Nach etwa drei Tagen brach der regelmäßige Telefonkontakt zwischen Emma und Hajo plötzlich ab, und Emma gelang es auch nicht herauszufinden, wo genau sich ihr Freund aufhielt. Eine Woche später stellte sich heraus, dass die erst kürzlich modernisierte Praxis verkauft worden war. Trotz intensiver Nachforschungen – auch die Polizei war eingeschaltet worden – blieb der Volvo-Fahrer spurlos verschwunden.
Diese Geschichte erfuhr ich, nachdem unsere Beziehung sich gefestigt hatte, aber wir räumlich getrennt an verschiedenen Orten eingesetzt waren. Nach den Kursen in Madrid, die auch dem intensiven Sprachtraining dienten, gingen wir noch für einige Monate nach Deutschland zurück, um unsere Ausbildung zu beenden. Nach deren Abschluss wurden wir unterschiedlichen Standorten zugeordnet: Emma ging eine Zeitlang an die Madrider Deutsche Botschaft und ich kam nach Portugal, zum Deutschen Konsulat in Porto. Die Distanz zwischen den beiden Städten ist nicht groß, weniger als zwei Stunden mit dem Flugzeug. Unser Wochenendrhythmus wurde unterbrochen, als Emma, wie sie sagte, aus familiären Gründen und auch wegen ihrer gleichnamigen Großmutter nach Südafrika reisen musste. Ich erinnere mich, dass diese Großmutter, sie wurde als starke Frau bezeichnet, als junge Frau einige Jahre in Afrika verbracht hatte und dass ihre Familie mit dem Kakaohandel zu tun hatte. Und jetzt ging es wohl um die Klärung von Erbstreitigkeiten. Aber gab es in Südafrika nicht eher Weinanbau als Kakaoplantagen? Zwei Wochen später sahen wir uns in Lissabon wieder, in einer Stadt, die wir noch kennenlernen wollten. Wir fanden in der Alfama ein kleines rot gestrichenes Hotel, verbrachten drei wunderbare Tage im portugiesischen Frühsommer und schmiedeten Zukunftspläne.
Emmas Großmutter soll eine sehr faszinierende Frau gewesen sein, zwar nicht von ins Auge fallender Schönheit, doch relativ groß, dabei feingliedrig und blond. Sie war die Tochter eines Hamburger Konsuls, der trotz vorrangig geschäftlicher Interessen nichts dagegen hatte, dass seine Tochter sich stark für Musik und Literatur interessierte, wenn sie nur später das Kaufmännische in Ehren hielt. Auf Alice Emma Marie hat sie wohl einen starken Einfluss gehabt, sowohl was ihr Aussehen, ihren Charakter, ihre Bildung betraf. Überliefert ist die Formulierung der Großmutter gegenüber ihrer Enkelin: „Werde nur keine Madame Bovary!“ Ob sich diese Forderung auf das Schuldenmachen oder die unglückliche Liebe bezog, war nicht mehr zu klären.
Es war uns gelungen, auch beruflich gemeinsame Wege zu gehen. Schon in der Ausbildung lag der Schwerpunkt auf Lateinamerika. Wir sollten nun beide in Buenos Aires eingesetzt werden. Trotz starker beruflicher Anspannung in Portugal hatte ich schon damit angefangen, mich in die argentinische Literatur einzulesen. Der Schwerpunkt meiner neuen Tätigkeit sollte auf dem kulturellen Sektor liegen. Experten rieten mir, ich müsse unbedingt Borges lesen. In einem Erzählband beeindruckten mich besonders die Erzählungen „Das Evangelium nach Markus“, „Deutsches Requiem“ und „Emma Zunz“. Den letzten Titel betrachtete ich als Entdeckung, schon allein vom Namen her, und wollte meine Emma mit dem Inhalt vertraut machen. Die allerdings winkte ab und gab zu verstehen, dass sie diese Geschichte schon längst kenne und für sie diese Emma ein alter Hut sei, dank ihrer Großmutter.
Wir steckten in den Vorbereitungen für den Umzug, als eine Nachricht aus Hamburg uns aufschrak. Tom/Toni hatte das mit Emma gemeinsame Konto restlos geplündert und soll aus Deutschland verschwunden sein. In Musikerkreisen gab es das Gerücht, er könne sich nach Acapulco abgesetzt haben. Emma schien sich nach anfänglicher Enttäuschung und Wut wieder gefangen zu haben und ließ sich ihre Gefühle nicht anmerken, sondern erklärte, da müsse sie jetzt durch. Wie zur Ablenkung nahm sie daher gern einen diplomatischen Auftrag an, der sie von Madrid nach Mexiko Stadt führte, und von dem sie behauptete, er habe mit unserer späteren Tätigkeit in Argentinien zu tun. Da ich selbst sehr beschäftigt war, fragte ich nicht weiter nach.
Emma war drei Wochen lang abwesend. In dieser Zeit nahm ich mir ein Wochenende, um nach Barcelona zu fliegen. Neben Gaudí interessierte mich die Architektur nicht weiter, und ich verbrachte viel Zeit in Buchläden, um verschiedene Ausgaben von Jorge Luis Borges’ erzählerischem Werk aufzutreiben. Das war in Portugal kaum möglich. In einen Buchladen kehrte ich immer wieder gern zurück, weil mir eine junge Buchhändlerin aufgefallen war, die sich mit Borges etwas auskannte. Ich nahm mir ein Herz sprach sie wieder an – ich fürchtete, ich würde ihr lästig fallen, und während des Gesprächs stellte sich heraus, dass sie nur aushilfsweise Bücher verkaufte, eigentlich Latein studiert habe und jetzt auf die Einweisung in eine feste Stelle an einem Colegio warte. Etwas mutiger geworden, erkundigte ich mich nach Möglichkeiten der Abendunterhaltung in der „katalanischen Kapitale“, wie ich etwas maliziös formulierte, und lächelnd fragte sie mich, ob ich sie heute Abend auf eine Vernissage begleiten wolle.
So lernte ich T. kennen. Natürlich hieß sie auch María. Wir verbrachten den Rest des Wochenendes zusammen und wollten uns wiedersehen. Zurück in Porto, fand ich eine Nachricht, dass Emma ihren Auftrag erledigt habe und sie in Kürze wieder in Madrid sei. Im Laufe der nächsten Tage telefonierte ich täglich mit T., und ich war mir nun sicher, dass ich mich in sie verliebt hatte und sie offensichtlich mich sehr mochte. Fantasien von einem gemeinsamen Leben mit ihr blockierten meine Gedanken. Ich war mir sicher, dass T. die entscheidende Rolle in meinem Leben spielen würde. Wie sollt ich das Emma beibringen? Da ich Emma als nüchtern, realitätsnah und karriereorientiert einschätzte, als Frau, die ihre berufliche Zielsetzung nicht durch Emotionen aus den Augen verlor, setzte ich mich daran, ihr einen Brief zu schreiben und ihr meine Gefühlssituation und Entscheidung für T. darzulegen, wohl wissend, dass die Pläne für Buenos Aires zu den Akten gelegt werden müssten.
Eine Zeitlang hörte ich von Emma nichts mehr, umso intensiver kommunizierte ich mit T.. Ich betrieb die Auflösung meiner Versetzung nach Südamerika und versuchte einen Posten am Konsulat Barcelonas zu bekommen, zweifellos einen geringeren Posten als der zunächst geplante. Als ich, noch in Porto, morgens die Pressenachrichten der größeren Zeitungsblätter der Iberischen Halbinsel durchging, um danach die Post zu sichten, stieß ich auf eine mich schockierende Nachricht. Es war von einer jungen Deutschen im diplomatischen Dienst die Rede, die beschuldigt wurde, zwei Morde begangen zu haben, einen in Südafrika, einen in Mexiko. Ob es weitere Morde gebe oder ob sie geplant gewesen seien, sei möglich, man investigiere noch. Bleich, mit zitternden Händen sah ich nach der Post. Ein unauffälliger Brief, der mit Verzögerung angekommen war, keinen Absender und eine maschinengeschriebene Adresse besaß, enthielt nur den folgenden in einer mir bekannten Handschrift mit schwarzer Tinte verfassten Satz: „Natürlich verachte ich Emma Bovary und bewundere Emma Zunz.“*
Dem Absendedatum nach muss der Brief längst aufgegeben worden sein, bevor die Zeitungsnachrichten erschienen.
*Borges lässt Emma Zunz einen raffinierten Plan schmieden, um die Schmach tödlich zu rächen, die ihr und ihrem Vater angetan wurde.